O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sven Lorenz

Aktuelle Aufführungen

Berufener Botschafter Beethovens

KLAVIER-FESTIVAL RUHR
(Rudolf Buchbinder)

Besuch am
4. Juni 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr, Bochum

Endlich! Langsam öffnen sich die Tore der Konzerthäuser und man darf den Künstlern, wenn auch mit Abstand, wieder als Mensch aus Fleisch und Blut begegnen und nicht als Schattenwesen aus dem unpersönlichen Wohnzimmer. Das Klavier-Festival Ruhr geht besonders ambitioniert vor und versucht, die meisten der noch bis zum 10. Juli ausstehenden Konzerte des diesjährigen Festivals realisieren zu können.

Los geht es mit einem denkwürdigen Auftritt von Rudolf Buchbinder im Bochumer Anneliese-Brost-Musikforum. Die Befürchtung, angesichts der recht strikten Hygienevorschriften könne sich eine ähnlich grabestrübe Stimmung einstellen wie in etlichen „Geisterkonzerten“ der letzten Wochen, ist zum Glück unbegründet. Die knapp 1000 Plätze dürfen zwar nur zu einem Viertel besetzt werden, Pausengespräche und gastronomische Erfrischungen fallen aus. Aber das Konzerthaus beginnt aufzuleben. Das Gefühl, sich im Foyer angesichts der „maskierten“ Besucher, je nach Design des Mund- und Nasenschutzes, in der Notaufnahme oder in exotischen Gefilden aus „1001 Nacht“ versetzt zu sehen, weicht im Saal der Vorfreude auf die Wiedererweckung der Live-Kultur.

Rudolf Buchbinder bietet zwar ein leicht gekürztes Programm, stemmt es dafür aber gleich zwei Mal an einem Tag. Und das mit Ludwig van Beethovens gewaltigen Diabelli-Variationen als Schlüsselwerk, was selbst einen so erfahrenen und werkkundigen Pianisten wie Buchbinder an seine Grenzen führen dürfte.

Foto © Sven Lorenz

Beethovens 33 Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli begleiten Buchinder seit 60 Jahren, und vergleicht man seine heutige Interpretation mit seiner ersten Einspielung aus den 1970-er Jahren, hat sie nichts von ihrer Kraft, Inspiration und geistigen Tiefe verloren, dafür aber an Reife, subtiler Präzision und charismatischem Gewicht hinzugewonnen. Buchbinders Deutung der an Kühnheit kaum zu überbietenden Variationen als „Panoptikum menschlicher Grundwerte“ und „Vielfalt menschlicher Charaktere“ wird angesichts seines Spiels nachvollziehbar.

Es wäre reizvoll gewesen, auch einige Variationen über den Walzer anderer Komponisten aus der Zeit Beethovens zu hören, wie es ursprünglich vorgesehen war. In seiner jüngsten CD-Veröffentlichung des Diabelli-Projekts tauchen Namen wie Franz Liszt, Franz Xaver Mozart, Conradin Kreutzer und Carl Czerny auf. Immerhin schürt Buchbinder mit dem Beitrag Franz Schuberts als Zugabe die Neugier auf weitere Arbeiten der Zeitgenossen des Meisters, die seinerzeit dem Aufruf gefolgt sind, eine Variation über den Walzer beizusteuern.

Noch interessanter erweist sich allerdings die deutsche Erstaufführung von elf „Neuen Variationen“ aus den Federn zeitgenössischer Komponisten, die Buchbinder für das Beethoven-Jahr in Auftrag gegeben hat. Prominente Namen zieren die Liste, die den Walzer ähnlich radikal „vor unseren Ohren fressen und verdauen“, wie es Buchbinder Beethovens Zyklus bescheinigt. Dunkel geht es bei Lera Auerbach zu, ruppig bei Brett Dean, zerbrechlich bei Toshio Hosokawa, und übermütig bei Jörg Widmann. Und mit den Arbeiten von Tan Dun, Christian Jost, Rodion Shchedrin oder Philippe Manoury sind der Vielfalt keine Grenzen gesetzt. Insgesamt ein Beethoven-Projekt, das künstlerisch und konzeptionell Maßstäbe im leider stark ausgedünnten Beethoven-Jahr setzt.

Anhaltender Beifall. Die Blumen überreicht dem Pianisten ein von Bochumer Studenten entwickelter, erfreulich gut erzogener Roboter. Blumen, die auch das deutlich aufgestockte, freundliche und hilfsbereite Personal verdient hätte. So kann es weitergehen …

Pedro Obiera