Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
BIG PLAY/QUID CHAOS
(Diverse Komponisten)
Besuch am
21. und 23. September 2023
(Premieren)
Zu einem lautstarken Kräftemessen treffen gleich drei Ensembles aufeinander und bringen kurz vor Ende der diesjährigen Ruhrtriennale die Bochumer Jahrhunderthalle zum Beben. Das Motto des Konzerts, Play Big, verspricht nicht zu wenig.
Ensembles wie das Chorwerk Ruhr, die Basel Sinfonietta in Mammutbesetzung und die NDR-Bigband begegnen sich gewiss so selten wie „Pinguin und Eisbär in freier Wildbahn“, wie es so schön im Ankündigungstext heißt. Das betrifft vor allem Klangkörper wie Bigband und Sinfonieorchester mit ihren unterschiedlichen, nicht gerade kompatiblen Klangidealen und Spieltechniken. Vorbehalte, die auch der an sich auf beiden Gebieten versierte Komponist Michael Wertmüller mit seiner nagelneuen Arbeit Shlimazl nicht entkräften kann. Ein dreisätziges, von harten rhythmischen Repetitionen geprägtes Werk, bei dem in den ersten beiden Sätzen die Bigband lediglich ein paar dekorative Akkorde einwerfen und sich erst im dritten Satz besser präsentieren darf, bevor beide Gruppen zu einem entfesselten „Shlimazl“, also Schlamassel, anheben. Den interessantesten Beitrag liefern hier noch die grandiosen Improvisationen des E-Gitarristen Kalle Kalima und des Schlagzeugers Lucas Niggli.
Dass es ausgerechnet der wegen ihrer religiös introvertierten Werke hoch geachteten russischen Komponistin Sofia Gubaidulina in ihrer über 30 Jahre alten Revuemusik besser gelingt, die beiden Ensembles zu einem homogenen und gleichberechtigten Klangkörper zu schmieden, und das mit viel Spielfreude, hinterlässt die überraschendsten und nachhaltigsten Eindrücke des Abends.
Foto © Christian Palm
Für den dicksten Beitrag, Simon Steen-Andersens Trio, gesellt sich nach der Pause noch das Chorwerk Ruhr dazu. Eine 50-minütige Ton- und Bild-Collage aus Dokumenten des Südwestrundfunks. Klang- und Filmschnitzel werden zu einem irrwitzig überdrehten multimedialen Ragout geraspelt, das die drei Live-Ensembles mit meist kurzen Einwürfen ergänzen. In bewundernswert präziser Koordination mit den Bildern, wofür gleich drei Dirigenten zu sorgen haben. Aber viel mehr als klingendes Beiwerk brauchen die drei Klangkörper nicht zu leisten, womit die seltene Chance vertan wird, drei versierte Top-Ensembles für ein musikalisch effektiveres Gemeinschaftsprojekt einsetzen zu können. Schade.
Für den Abschluss ihrer dritten und letzten Saison als Intendantin der Ruhrtriennale lädt Barbara Frey zu einem Nachtkonzert in die zur Kathedrale gewandelte Jahrhunderthalle. Nach den Klangschlachten des Play Big der Vortage sorgen die 24 Sänger des belgischen Huelgas Ensembles bis weit nach Mitternacht für einen zarten Abschied voller spiritueller Energie.
Neun Chorgesänge aus dem 15. bis 17. Jahrhundert, darunter eine ausgedehnte Mess-Vertonung des franko-flämischen Meisters Antoine Brumel, zieren das mit weit mehr als zwei pausenlosen Stunden arg lang geratene Mitternachts-Event. Das Motto des Programms Quid Chaos, das man mit Welch ein Chaos übersetzen kann, stammt zwar aus einem hoffnungsvollen Hochzeitslied von Leonhard Lechner. Allerdings korrespondiert das Motto auch mit der Programmpolitik Freys, die in ihren drei Jahren eine von Aufruhr, Irritationen und Ängsten geprägte Welt reflektierte, in der es wenig zu lachen gibt. Selbst nicht im Sommernachtstraum zur diesjährigen Saisoneröffnung.
Die Qualität des Huelgas Ensembles unter der Leitung von Paul van Nevel ist unbestritten. Mit großer Experimentierfreude nutzen die Interpreten die räumlichen Möglichkeiten der Jahrhunderthalle und wechseln für jedes Stück ihre Positionen, so dass vor allem mehrchörige Werke effektvoll zur Geltung kommen. Beeindruckend, wie nuanciert die unterschiedlichen Stile von den alten franko-flämischen Meistern über die komplexe Vokalpolyphonie eines Palestrina bis zu Vertretern der venezianischen Mehrchörigkeit zum Ausdruck kommen. Auch wenn die Kontraste auf Dauer nicht so plastisch ausfallen, um einen derart langen Abend unter Spannung halten zu können. Vor allem nicht nach Mitternacht.
Pedro Obiera