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Poesie aus Wuppertal

ABSCHIED
(Ella Milch-Sheriff, Johannes Brahms)

Gesehen am
28. Mai 2021
(Uraufführung)

 

Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr, Bochum

Die Zeiten sind turbulent. Während jetzt viele Häuser versuchen, noch möglichst viele ihrer Produktionen auf die Bühnen zu bringen, egal, wie viele Personen davor sitzen, wollen die anderen ihr Publikum noch motivieren, die geplanten Streams am heimischen Monitor anzuschauen. Aber letztlich ist es egal, welche Schritte die Häuser unternehmen, wichtiger scheint, das Publikum schnellstmöglich wieder auf die Kultur einzuschwören. Denn die Sommerferien stehen bevor. Bei der Vielzahl der bereits abgesagten Festivals also weitere sechs Wochen – fast – kulturfreier Zeit. Das Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr in Bochum gehört zu den Häusern, die sich weiter abschotten, selbst Journalisten nicht zu den Aufführungen zulassen, die das Haus streamt. Das ist gerade bei einer Uraufführung besonders bedauerlich. Und dabei haben die Bochumer Symphoniker weder Kosten noch Mühen gescheut, ihrem Chefdirigenten, Steven Sloane, der das Orchester nach 27 Jahren verlässt, ein ordentliches Abschiedsgeschenk zu bereiten.

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Zu diesem Zweck wurde Ella Milch-Sheriff mit einer Komposition beauftragt. Die in Israel lebende Komponistin wurde in Deutschland vor allem mit ihren Kammeropern Baruchs Schweigen, Gespräch mit einem Stein und Banalität der Liebe bekannt. Jetzt soll sie sich mit Gedichten von Else Lasker-Schüler musikalisch auseinandersetzen. Else wurde in Elberfeld, einem Stadtteil Wuppertals geboren und verbrachte auch ihre Kindheit dort. Im Alter von 25 Jahren heiratete sie den Arzt Jonathan Berthold Lasker und ging nach Berlin. Ihr Leben als Jüdin und Lyrikerin oder umgekehrt verlief aufregend, abwechslungsreich, dramatisch, immer leidenschaftlich und führte sie über die Schweiz nach Israel. Heute gilt sie als nicht unumstrittene, aber herausragende Vertreterin „der avantgardistischen Moderne und des Expressionismus in der Literatur“. Es gibt gleich mehrere Gedichte von ihr mit dem Titel Abschied. Für die Komposition wurden die beiden Gedichte aus dem 1932 veröffentlichten Gedichtband Konzert, der noch bei Rowohlt in Berlin erschien, ausgewählt. Ein Abschied ist in der Regel in der Hälfte aller Fälle eher etwas Trauriges. Mit dem Alter verschiebt sich dieser Grad. Die Menschen, die aus dem eigenen Leben verschwinden und denen man hinterhertrauern möchte, werden weniger. Diejenigen, über deren Verschwinden aus dem eigenen Leben Gleichgültigkeit bis Freude vorherrscht, werden mehr. Eine Erkenntnis des Alters, die vieles relativiert. Auch der Text von Lasker-Schüler geht mit dem Begriff Abschied sehr differenziert um. Für Milch-Sheriff mag die Komposition gerade zum rechten Zeitpunkt gekommen sein, denn es ist gerade drei Jahre her, dass sie sich von ihrem Mann und dem Vater ihrer beiden Söhne, dem Komponisten Noam Sheriff, verabschieden musste.

In dieser Gemengelage ist die Erwartung groß, die Uraufführung in Bochum zu erleben. Milch-Sheriff hat einen Liederzyklus für Sopran und Orchester erschaffen, zu dem die Bochumer Symphoniker nach früherer Zusammenarbeit die Sopranistin Rebecca Nelsen erneut eingeladen haben. Ein Glücksgriff. Die Sängerin feiert als Ensemble-Mitglied der Volksoper Wien Erfolg um Erfolg – wenn sie überhaupt da ist. Einladungen an die großen Bühnen dieser Welt sind für sie so normal wie die Liederabende und Konzerte, die sie mit der Pianistin Chanda VanderHart in Wien selbst inszeniert. Vier Tage vor der Uraufführung ist sie in Bochum eingetroffen, um in Doppelproben den Zyklus einzuüben, dessen Noten sie wenige Monate zuvor erhalten hat.

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Moderator Björn Woll eröffnet den Abend mit kurzen Erläuterungen. Dann endlich dürfen Steven Sloane ans Pult und Rebecca Nelsen auf die Bühne treten, um eine der, wenn nicht die hervorragendste Uraufführung des Jahres zu beginnen. Motiviert bis in die Haarspitzen folgen die Bochumer Symphoniker den scheinbar unaufgeregten Anweisungen Sloanes, während Nelsen mit einer beeindruckenden Souveränität ihren Vortrag beginnt. Neben aller Farbvielfalt im Orchester legt Milch-Sheriff die Stimme, wie bei Komponisten der Gegenwart offenbar üblich, in den Extremen an. Aus textunverständlichen Höhen geht es bis ins tiefe Fis, das Nelsen unbeeindruckt – allerdings zum ersten Mal auf der Bühne – präsentiert. Nicht umsonst erfolgt schnell der schriftliche Hinweis im Chat auf den Programmflyer, in dem der Text nachgelesen werden kann. Wenn man ganz ehrlich ist, ist einem der Text auch ziemlich schnell egal, weil die Stimmführung einfach phänomenal ist und die Uraufführung zu einem echten Erfolg führt. Das sieht auch die Komponistin so, die immerhin maskiert einen Augenblick auf der Bühne zu sehen ist.

Hier ist eigentlich das wundervolle Ende eines großartigen Abends erreicht. Und wenn man sich schon in analog erlebten Konzerten wünscht, dass die Veranstalter den Mut zu einer Uraufführung finden, ohne noch einen Anhang oder Vorlauf dranzuhängen, gilt das für einen Stream umso mehr. In Bochum allerdings scheint man dieses Selbstbewusstsein auch nicht zu besitzen. Und so wird die zweite Symphonie in D-Dur von Johannes Brahms ohne jeden Zusammenhang hinterhergeschoben. Man lässt das weiterlaufen, kann in der Zeit schon mal die Zähne putzen und sich auf das Bett vorbereiten. Hat ja auch was.

Rebecca Nelsen übrigens ist inzwischen längst nach Wien zurückgekehrt, um einen Aufführungsmarathon an der Volksoper zu absolvieren. Denn jetzt geht es ja wieder richtig los auf der Bühne. Die Uraufführung in Bochum wird sie trotzdem lange nicht vergessen. Die Zuschauer auch nicht. Gratulation zu einem außerordentlichen Erlebnis.

Michael S. Zerban