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Die Stunde des Romeo

I CAPULETI E I MONTECCHI
(Vincenzo Bellini)

Besuch am
5. November 2021
(Premiere)

 

Theater Orchester Biel Solothurn

In Vincenzo Bellinis Zweiakter, 1830 im Teatro La Fenice uraufgeführt, ist alles anders. Obschon es in diesem Opus um die berühmteste Liebegeschichte der Welt geht, ist die Tragödie Romeo und Julia von William Shakespeare weit weg. Es gibt keinen Ball bei den Capulets, auch Julias Amme und Romeos Widersacher Mercutio fehlen, ja selbst die Balkonszene kommt nicht vor. Bellinis Librettist Felice Romani arbeitete unter anderem auf der Grundlage der Novelle Der tragische Tod zweier unglücklicher Liebender von Matteo Bandellos. Shakespeare, der seine Tragödie um 1596 schrieb, war im Italien des früheren 19. Jahrhunderts nahezu unbekannt.

Die verfeindeten Familien der Capulets und der Montecchi lebten im 13. Jahrhundert, so lautet die Prosa. Regisseur Yves Lenoir und sein Bühnenbildner Bruno de Lavenère lassen jedoch in ihrer konzisen Lesart nicht das späte Mittelalter mit Strumpfhosen, Degen und holder Maid aufleben. Sie holen die tragisch endende Liebesgeschichte in die heutige Welt der Politik und machen daraus einen Wahlkrimi. Lenoir bedient in seiner minimalistischen Lesart eine Schwarzweiß-Ästhetik, die auch mit dem Licht von Mario Bösemann an den legendären Film noir erinnert. Kostümbildner Jean-Jacques Delmotte setzt Farben nur punktuell ein, die zum Teil edlen Stoffe wie die prunkvollen Kronleuchter an der Decke wirken dabei vielmehr wie ein Echo aus einer glanzvolleren Ära.

Ein begehbarer Kubus, ähnlich einem Pavillon, erhält seine quadratische Form durch ein feines Kettengewand. Er steht mitten auf der Bühne, und die Protagonisten inszenieren damit ihre Auf- und Abtritte wie Popstars, die nach Aufmerksamkeit lechzen. Ähnlich den Figuren auf einem Schachbrett ist der Spielraum der einzelnen Charaktere allerdings begrenzt. Die Regie legt den Hauptfokus geschickt auf die Unausweichlichkeit der Tragödie, in deren Mittelpunkt eine Zweckheirat steht, die Suizide und einen Mord zur Folge hat. Lenoirs Antihelden scheinen hoffnungslos und ausgelaugt, denn das finale Schachmatt zeichnet sich bereits zu Beginn der Oper ab.

Aoife Gibney ist Giulietta und ihre Darstellung als aufmüpfiger No-Future-Teenager hat Kante. Der Spross eines einflussreichen Magistraten steckt in einem punkigen Tutu aus Tüll und kämpft mit Skateboard, Zigarette und einem Flachmann in der Hand gegen die lebensfeindlichen Konventionen. Ihrer Zwangsvermählung mit Tebaldo sieht sie mit Schrecken entgegen, denn sie liebt Romeo, den Sohn der verfeindeten Montecchi. Ihr markanter wie höhensicherer Sopran hat Kraft und Ausdauer, findet sich aber nicht immer im girlandenreichen Belcanto, wo mehr Zurückhaltung angesagt wäre.

Romeo ist der coole James Dean der Generation Y, ein protziger Kerl mit frecher Schnauze und weichem Herzen. Die Frisur sitzt, der lässige Mantel schwingt. Geht es um seine große Liebe, wird er zum furchtlosen Ritter. Mezzosopranistin Josy Santos gelingt eine Rollengestaltung, die vom heroischen Gebaren bis zum schmerzvollen Sterbeseufzer vollumfänglich gefangen nimmt. Mit ihrer facettenreichen wie geschmeidigen Stimme singt sich die Künstlerin in die obere Liga. Santos zelebriert die Kunst des Belcanto mit betörendem Messa di voce und formvollendeten Legati auf hohem Niveau. Wenn die Sängerin in dieser Hosenrolle als Romeo am Ende den selbstgewählten Gifttod stirbt, bleibt kein Auge trocken.

Einen exzellenten Lauf hat auch Gustavo Quaresma als Tebaldo. Dem lyrischen Tenor gelingen ausnahmslos gleißende Gesangsbögen, die oftmals in schwindelerregende Höhen münden. Man nimmt ihm die Nummer zwei mit Hang zur Aggression gerne ab. Daniel Reumiller bringt Capellios Strenge und Sturheit mit seinem dynamischen Bass passend auf den Punkt. Jonathan Macker verleiht dem treuen Lorenzo auch stimmliche Wärme, sein Bassbariton hat dunkle Farben und brummt sonor. Bellinis Wurf ist auch eine Choroper und mit Chorleiter Valentin Vassilev in besten Händen.

Frano Trincas Dirigat ist ein Hochgenuss. Der Maestro taucht mit dem Sinfonie-Orchester Biel Solothurn in funkelnde Belcanto-Sphären und präsentiert einen ausgesprochen luziden Klangkörper, der in der Dynamik prächtig aufblüht. Trincas Tempiwechsel sind derart präzise und elegant, dass man sich in einer durchkomponierten Oper wähnt. Auffallend sind auch die ausgefeilten Rubati, die dem Werk, zehn Jahre vor Verdi, zusätzliche Dramatik verleihen. Man mag sich ein Wetteifern zwischen den beiden Komponisten gut vorstellen, wäre Bellini nicht so früh mit knapp 35 Jahren verstorben.

Das Publikum feiert diese Premiere mit frenetischem Applaus und anhaltenden Bravorufen. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die Opernhauptstadt im Kanton seit geraumer Zeit nicht in Bern, sondern im Raum Biel Solothurn liegt.

Peter Wäch