O-Ton

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Blutrausch in Pumphosen

OTELLO
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
10. Oktober 2020
(Premiere)

 

Konzert Theater Bern

Man darf Regisseurin Anja Nicklich ein Kränzchen winden. Im Gegensatz zu ihren Kollegen, die bei Konzert Theater Bern und anderswo aus Oper ein pseudointellektuelles Verwirrspiel schustern, versteht man ihre Arbeit zu Giuseppe Verdis Spätwerk Otello ohne vorgängige Erläuterungen. Man kann sich allerdings fragen, wo Nicklichs Lesart einen Punkt trifft, den wir noch nicht kennen. Sie nutzt das Libretto von Arrigo Boito nach William Shakespeare geradezu als Drehbuch, um daraus einen Historienschinken zu basteln, wie ihn Franco Zeffirelli mit Romeo und Julia 1968 fürs Kino konzipierte. Immerhin: Das allseits hochgekochte Thema des Blackfacing bleibt außen vor.

Man hat ja schon einiges gesehen am Stadttheater Bern, verschwitzte T-Shirts, comichaft überzeichnete Protagonisten und jede Menge Luftballons. Aber wieso müssen es zum Saisonstart unter dem neuen Intendanten Florian Scholz altertümliche Pumphosen und Samtroben sein? Kostümbildnerin Gesine Völlm platziert das Geschehen unmissverständlich in die Ära von William Shakespeare, obschon die Regie mit der dezidierten Darstellung von häuslicher Gewalt einen Bezug zur Gegenwart schaffen will. Nicklich, Bühnenbildnerin Janina Thiel und ihre Mitstreiterin Romina Kaap stilisieren die Zeit des ausgehenden 15. Jahrhundert mit einfachen Mitteln. Es hilft nur bedingt. Die böse endende Liebesgeschichte zwischen dem Kriegshelden Otello und seiner Gemahlin Desdemona, hintertrieben vom teuflischen Fähnrich Jago, entfaltet sich in einem maurischen Tempel auf Zypern mit Wackelsäulen und nicht im 21. Jahrhundert.

Das wäre locker hinnehmbar, aber die Auseinandersetzung Nicklichs mit den Figuren und ihren inneren Seelenkämpfen gelingt ihr leider nur schablonenhaft. Der Zerfall des Bühnengemäuers als Gleichnis für die zunehmende Zerrüttung des Ehepaars ist ein ebenso gängiger wie viel bemühter Kniff. Dafür geistert Emilia, Desdemonas Zofe und Jagos Gattin, immer wieder durchs Geschehen. Die Zuschauer sollen die unheilvollen Entwicklungen aus der Perspektive dieser Figur sehen, die im Original von Verdi und Boito lediglich eine Nebenrolle innehat.

Wenn bauschige Gewänder auf eine relativ uninspirierte Regie und eine vorhersehbare Dramaturgie treffen, sind das ungünstige Ingredienzen für das Gelingen eines spannungsgeladenen Opernabends. Bei der Berner Premiere kommt unglücklicherweise noch ein Stolperstein hinzu. Tenor Rafael Rojas ist wegen einer abklingenden Erkältung indisponiert und erhält mit Aldo Di Toro einen Sidekick. Letzterer hat die Rolle auf dem Leib, aber nicht auswendig im Kopf. Das bedeutet, dass Rojas spielt und Di Toro am Bühnenrand ab Vorlage singt. Leider ist die Pantomime von Rafael Rojas ungewollt komisch, denn sie ist weder synchron noch glaubwürdig. Rojas übertreibt derart mit Gestik und Grimassen, dass man sich in die guten alten Stummfilmzeiten zurückversetzt glaubt, in denen ein Rudolph Valentino für Furore sorgte. Rafael Rojas Schauspielkünste liegen aber weit unter dem Talent des italienischen Beaus und man kann nur hoffen, dass er nicht so singt, wie er agiert.

Das viele Blut im vierten und letzten Akt ist derart plakativ gezeichnet, als hätte sich eine Kita mit Pinsel und Farbe ausgetobt. Desdemonas letztes Stündlein endet auch nicht im gemeinsamen Ehebett, sondern in einer Art Brunnen, der die Form eines Sarkophags hat. Das Overacting ihres Bühnenpartners, der mit weit aufgerissenen Augen um seine temporär nicht vorhandene Stimme ringt, konterkariert Verdis überirdisch schöne Musik zusätzlich. Man wähnt sich vielmehr am Set einer Seifenoper als mitten in einem Drama.

Der Star des Berner Abends ist mit Abstand Jordan Shanahan als Jago. Hier kommen Gesang und Spiel wundersam zusammen. Dem Bariton gelingt ein hoch authentisches Rollenporträt, das fesselt und zugleich schaudern lässt. Shanahan geht den Part mit der richtigen Dosis Hinterhältigkeit und Furor an und sorgt mit seinem männlichen wie austarierten Bariton immer wieder für Gänsehaut. Evgenia Grekova ist Desdemona. Die Sopranistin singt in Bern viele große Partien, darunter Puccinis Mimì oder Cio-Cio-San und neben Otellos Angetrauten auch bald Bellinis Norma. Das ist insofern erstaunlich, weil Grekovas Sopran nicht sonderlich kraftvoll ist und ebenso wenig über Farben und Nuancen verfügt, die für lyrisch-dramatische Rollen dringend erforderlich sind. Ihre feingliedrige, silbern strahlende Stimme ist perfekt geeignet für Desdemonas Lied von der Weide, aber im Gebet danach fehlt es ihr bereits an der nötigen Intimität.

Aldo Di Toro ist als zweite Geige Otello ein Glücksgriff. In seinem hellen Tenor liegt viel Kraft, die der Wandlungsfähigkeit seines Organs nicht im Wege steht. Vereinzelt neigt Di Toro dazu, die Gesangsbögen dramatisch zu überdehnen, was dann einen Tick gepresst klingt. Die Nebenrollen in Verdis durchkomponiertem Werk aus dem Jahr 1887 sind in Bern gut besetzt. Sarah Mehnert ist als Emilia sogar ein wenig unterbesetzt, denn dieser Mezzosopran steht für mehr. Tenor Nazariy Sadivskyy beweist als Cassio, dass seine Stimme kontinuierlich an Volumen und Farben dazu gewinnt.

Der Chor unter Zsolt Czetner singt maskiert, dafür mit umso mehr Leidenschaft. Das kommt auch bei den wenigen Ensembles mit den Solisten glänzend zum Tragen. Aus dem Graben ertönt ein mächtiger und imposanter Verdi. Es donnert und grollt, wenn Matthew Toogood das Berner Symphonieorchester mit feuriger Verve antreibt. Der Mann am Pult versteht es ebenso behände, die feinen Verästelungen aus der Partitur herauszukitzeln, und aus der Oper das zu machen, was sie ist: Ein mehrschichtiges Meisterwerk mit einer immensen Sogwirkung. Leider bleiben die Augen trocken, der Jubel bei den Premierengästen ist trotzdem einhellig. Zu lange dauerte wohl die Corona-Zwangspause. Der Neustart, wenn auch zu zahm und beliebig, hat offenbar viele Freunde von Konzert Theater Bern abgeholt.

Peter Wäch