O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Janosch Abel

Aktuelle Aufführungen

Der infantile Infant

DON CARLOS
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
16. Oktober 2021
(Premiere)

 

Bühnen Bern

Carlos ist ein Problemkind. Der Thronfolger von Philippe II., König von Spanien, ist auffällig, kindisch, aber auch störrisch und wankelmütig. Als Giuseppe Verdi seine Oper Don Carlos nach Friedrich Schillers dramatischem Gedicht 1867 für Paris schrieb, soll ihm der tragische Titelheld nicht sonderlich sympathisch gewesen sein. Man erkenne das an den zum Teil abgehackten Melodiesträngen, die im Gegensatz zu jenen seiner Mittstreitern selten harmonisch oder gar schwelgerisch sind. So sieht es zumindest Regisseur Marco Štorman, der Verdis rund vierstündigen Fünfakter für Bühnen Bern konzipiert hat. Eins gleich vorweg: Bei der gewagten Sicht auf die Irrungen und Wirrungen rund um Don Carlos geht es am Ende um nichts Geringeres als die Abschaffung des Patriarchats.

Verdis düsteres Opus aus dem inneren Zirkel von Machtmenschen und Kriegsfürsten ist ein mutiger Einstieg in die neue Opernsaison, bei dem Intendant Florian Scholz erstmals auch die künstlerische Leitung in Bern verantwortet. Der Grand Opéra war zwar diesen September mit Andrew Lloyd Webbers Evita die wesentlich leichtere Kunst vorangegangen. Diese Tatsache wollte niemand richtig ernst nehmen, auch wenn der neue Co-Opernleiter und Dirigent Nicholas Carter überzeugt ist, dass man Operninteressierte vom Land mit Musicals ins Theater lockt. So ist denn die Premiere nahezu ausverkauft, die 3G-Regel macht’s möglich. Die wenigen Plätze, die leer bleiben, sind wohl dem Umstand geschuldet, dass trotz all der umfassenden Sicherheitspolitik Maskenpflicht herrscht. Eine Maßnahme, die auch für den Chor auf der Bühne gilt und gleich zu Anfang der Oper einen leicht verstörenden Eindruck hinterlässt. Vom akustisch dumpfen Gesang durch unzählige Stoffbahnen hindurch ganz abgesehen. Chorleiter Zsolt Czetner trifft keine Schuld.

Wer sich Verdis Oper in Bern anschaut, sollte sich vorher die Erläuterungen des Kreativteams zu Gemüte führen, sie umfassen mehrere Seiten im Programmheft und sind ideologisch durchtränkt. Wer also denkt, er könne sich entspannt in die bequemen Fauteuils gleiten lassen und genießen, der irrt. Štorman und Dramaturgin Rebekka Meyer, letztere gehört fix zur Bühnen-Bern-Crew, geht es um ganz viel. Männer sind nämlich toxisch und Frauen ausnahmslos stark. Männer wollen Krieg, Frauen den Frieden. Das mag zwar schon Verdi so gesehen haben, denn im Grunde gibt es beim Maestro keine schwachen Frauenfiguren in seinem ganzen Oeuvre. Verdi war vielmehr ein Frauenversteher. Doch das scheint heute nicht mehr zu reichen, wenn es um die hehre Moral geht, die im engen Korsett von Gleichberechtigung und Gender-Mainstreaming die Marschrichtung vorgibt. Dazu gehört auch die Geschlechtstransition, die in der Berner Lesart der Page Thibault durchmacht. Während die Hofdame Eboli ein koloraturhaftes, maurisches Lied anstimmt, darf er die Initiation zur Frau erleben.

Foto © Janosch Abel

Womit wir mitten in der Handlung wären, und die ist zugegebenermaßen eine Herausforderung. Die Kurzfassung: Der Infant Don Carlos liebt Élisabeth de Valois, doch Königsvater Philippe sieht das anders. Der Patriarch schnappt sich die schöne Französin selbst, denn schließlich gilt es, Frieden zu stiften zwischen den verfeindeten Ländern Spanien und Frankreich. Der Deal gelingt, doch Carlos wird erst recht zornig und will seine aufgestaute Wut in einem Krieg in Flandern austoben. Sein Busenfreund Rodrigue, Marquis de Posa, unterstützt ihn anfänglich dabei. Am Schluss kommt alles anders, denn da gibt es noch ein aufständisches Volk und einen Großinquisitor, der Philippe das Fürchten lehrt. Élisabeths Zofe verliebt sich derweil in Carlos und beklaut obendrein ihre Chefin. Ihr Schäferstündchen mit dem König ist aus Sicht der Regie nicht freiwillig, Eboli ist ein MeToo-Opfer. Das Chaos ist perfekt, es drohen Exil, Kloster und für den aufmüpfigen Rest das Autodafé.

Am Ende der ursprünglichen Oper wird evident, dass Élisabeth ihren Wildfang Carlos liebt, doch die beiden geben dem Druck nach und sagen sich herzzerreißend Lebewohl. Dann holt der Geist von Karl V., ähnlich wie der Komtur in Mozarts Don Giovanni, den hyperaktiven Thronfolger in sein Grab. In Štormans Lesart wird jedoch früh ersichtlich, dass die Königin genug hat von ihrem Stiefsohn und Ex-Verlobten. Wenn Sie im Libretto von Joseph Méry und Camille du Locle zu Carlos sagt, dann töte doch deinen Vater und heirate deine Mutter, möchte sie ursprünglich den Weg frei haben für ihren hitzigen Jungspund. Die Regie sieht hier aber einen klaren Hinweis für einen Ödipus-Komplex.

Die Bühne von Frauke Löffel ist ein dunkles Schattenreich, in dem ein Minimum an Requisiten die einzelnen Szenen andeutet. Stoffbahnen, wie man sie beim Berner Innenausstatter Decorof findet, bringen buntes Spiel ins Geschehen. Sie hängen beliebig mal höher, mal tiefer und unterstreichen mit dem raffinierten Licht von Bernhard Bieri die einzelnen Bilder. Eine entrümpelte Bühne mit reduzierten Stilmitteln ist an sich eine probate Herangehensweise, doch die Personenführung bleibt über lange Strecken starr und mündet oft im Rampensingen. Das ist angesichts der emotionalen Wucht, mit der Verdi seine Antihelden durch das Geschehen jagt, bedauerlich.

Foto © Janosch Abel

Es mag gerade für ein jüngeres Opernpublikum wohltuend sein, wenn eine Handlung nicht wie vorgesehen im 16. Jahrhundert stattfindet, wo die Säbel blechern rasseln, doch bei den Kostümen von Axel Aust wird nicht ersichtlich, ob sich das Drama im Hier und Jetzt oder nicht doch in einer künftig entmannten Ära entspinnt. Prinzessin Eboli könnte mit ihrem Domina-Leder einem Mad-Max-Film entsprungen sein, ihre Gebieterin Élisabeth würde man mit den überdimensionalen Daisy-Duck-Schlaufen an ihrem Kleid eher in einem Disney-Märchen verorten.

In der Pause enerviert sich ein Premierengast nicht über das trübe Setting, sondern über die Tatsache, dass Florian Scholz bei seinem Antritt vor zwei Jahren praktisch das ganze Ensemble im Musiktheater entlassen hat. Er nennt seine Publikumslieblinge mit Namen, denn die hätten das seiner Meinung nach genauso gut gemacht, wenn nicht sogar besser. Gesungen wird in Bern jedoch fast ausnahmslos prächtig, die Besetzung besteht zu weiten Teilen aus Gästen. Es gibt sogar einen Star des Abends, und das ist die junge Sopranistin Masabene Cecilia Rangwanasha. Sie singt zum ersten Mal in einer inszenierten Oper und reüssiert gleich noch mit einer Rolle, die Sängerinnen erst viel später zum Besten geben. Ihre Technik ist einwandfrei, die Töne sitzen formschön und Rangwanasha erklimmt die Höhen scheinbar mühelos. Es mag der Regie geschuldet sein, dass sie darstellerisch zurückfällt, denn mehr Bewegung gehört eindeutig zu dieser Partie, die von den dramatischen Entwicklungen durchgeschüttelt wird.

Raffaele Abete hat einen luziden Tenor, der von einem seidenen Glanz durchwoben ist. Seine Stimme trägt im ersten Teil der Oper vollumfänglich, dann fordert die stimmstarke Rolle etwas ihren Tribut und Abete muss sich sein Forte mitunter erkämpfen. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Künstler seinen Carlos als nervigen Zappelphilipp bestreiten muss. Vazgen Gazaryan ist König Philipp II., sein Bass hat Grandezza und trägt den ganzen Abend majestätisch. Gustavo Castillo überzeugt als Rodrigue vor allem mit agilem Spiel, seinem durchaus männlichen Bariton fehlt es aber noch etwas an den nötigen Farben für diesen intensiven Part. So richtig ab geht die Post bei Eve-Maud Hubeaux, die mit ihrem lodernden Mezzosopran auch die Höhen tadellos im Griff hat. Die Prinzessin Eboli wird mit Hubeaux zur feurigen Amazone mit der Lizenz zum Töten. Matheus França fällt als grimmiger Großinquisitor stimmlich ab, seinem Bass fehlt es an nötiger Spannkraft, die das ultimativ Böse zur Geltung bringt.

Nicholas Carter am Pult gelingt mit diesem Verdi ein berauschender Einstand in Bern. Er pumpt wabernde Wärme, ähnlich einem Lavastrom, in den Apparat und geizt gleichzeitig nicht mit krachendem Pathos. Sorgfältig manövriert Carter das Berner Symphonieorchester durch die filigranen Stellen in der Partitur und beweist, dass er auch ein Meister der Zurückhaltung sein kann.

Das von der Regie ersonnene Finale lässt keine Deutungen mehr zu. Drei Frauen außer Rand und Band erschießen sinnbildlich das Patriarchat. Mit Carlos liegen noch zwei weitere Herren der Schöpfung am Boden. Friedlich ist das nicht, man muss sich also in Acht nehmen vor einem Matriarchat, in dem ein jeder zum Täter wird, der die neue Kirche der Hochmoral anzweifelt. Die einzelnen Buhrufe im sonst tosenden Applaus sind vermutlich auch diesem Umstand geschuldet. Bis dato galt es als Sakrileg, Hand an die Handlung zu legen. Ein gutes Zeichen ist das mitnichten. Müssen wir bald damit rechnen, dass Cio-Cio-San in Puccinis Madama Butterfly von einem Ladyboy gesungen wird und Pinkerton, der Name ist womöglich Programm, in einer progressiven Auslegung schwul ist?

Peter Wäch