Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
LA VOIX HUMAINE
(Francis Poulenc)
Besuch am
11. August 2022
(Premiere)
Fernab von den aktuellen sommerlichen großen Festspielbühnen gibt es auch Opernhappenings. In Berlin-Moabit zum Beispiel. Hier kommt das interessierte Publikum, so wie es gerade passt – sommerliches Kleid, Shorts, Birkenstock-Schuhe oder High Heels. Alle sind willkommen in der Galerie Nord/Kunstverein, die sich seit 2004 einen Namen als Treffpunkt für zeitgenössische Kunstaustellungen macht. Mit dieser Produktion geht sie einen Schritt weiter und verdingt einen Klassiker des 20. Jahrhundert mit Musik und Performance.
Basierend auf dem Einakter von Jean Cocteau aus dem Jahr 1929 und vertont von Francis Poulenc 1950, ist La Voix Humaine ein starkes Vehikel für eine Sängerin. Ein Mann bricht am Telefon mit seiner Geliebten; sie will es nicht wahrhaben und versucht verzweifelt, ihn zurückzugewinnen. Vergeblich. 1930 war ein Telefon eine hochtechnologische Entwicklung; heute wäre es eine SMS auf dem Handy. Der Effekt des Schocks und der Reaktion ist der Gleiche – das kann nicht sein, wir haben uns da missverstanden – gefolgt von Wut und Verzweiflung …
Regisseurin Inga Levant streift jegliche historische Assoziation des Stückes mit der Aura und der eleganten Ästhetik, die man von Cocteau kennt, ab. Die Besucher des Opernhappenings werden gebeten, sich frei in den nüchternen Räumen der Galerie Nord zu bewegen. Sitzmöglichkeiten für die maximal 40 Zuschauer sind begrenzt auf einige Fensterbänke. Als Bühnenbild und Kunstinstallation sind Werke von dem Künstler Dragan Matić an den Wänden – Kollagen aus Gebrauchttextilien mit alten Fotos und Moderequisiten wie Perücken, Schuhen, Schmuck. Nach und nach ergeben sich Zusammenhänge mit dem Stück in einem Mix von Dada und Surrealismus.
Foto © O-Ton
Sybille Fischer gibt der Verlassenen ihre Stimme. Ein kultivierter Sopran, sie ist keine aufgedonnerte Diva, sondern analysiert die Situation erstmal intellektuell, bevor sie sich zu hochdramatischen Ausbrüchen steigert. Das ursprüngliche französische Libretto ist auf Deutsch mit exzellenter Verständlichkeit gesungen. Allmählich greift sie in die Kunstwerke ein und gibt der breiten Palette ihrer Verzweiflung nach: Erinnerungen an glücklichere Tage, an gemeinsam durchlebte Ereignisse, Emotionen werden aufgewühlt, Fantasien werden genährt. Bis hin zum dramatischen Ausbruch wo ein Haufen alter Fotos als emotionale Waffe benutzt und mitten ins Publikum geworfen werden.
Zeitgleich hat Regisseurin Inga Levant eine männliche Figur kreiert: Sie ist der unsichtbare aber vehement angesprochene Liebhaber, der weder bei Cocteau noch bei Poulenc auftritt, aber doch der zentrale Charakter und emotionales Ziel ist. Als stumme Rolle konzipiert, haucht Krzysztof Leon Dziemaskiewicz diesem Charakter Leben ein und rückentwickelt sich von einem soignierten Gentleman im eleganten Anzug in ein wurmartiges Wesen, welches sich fast nackt in einen selbstgemachten Kokon aus durchsichtigem Klebeband umschlingt und wegschleicht. Dafür schneidet er sich den Anzug vorab förmlich vom Leibe mit langer Schneiderschere – ein atemberaubender Striptease der besonderen Art.
Pianist Markus Zugehör interpretiert die Partitur von Poulenc mit außerordentlicher Tiefe und emotionaler Bandbreite auf einem herausragend gut tönenden Vintage-Bechstein-Flügel.
Der etwa 60 Minuten lange Monolog der Darstellerin ist heute genauso relevant wie zu Zeiten der Entstehung. Nicht etwa, wie es 1930 Jean Cocteau erdachte, als er das neumodische Gerät – das Telefon – ins Zentrum des Geschehens stellte, sondern weil die emotionale Komponente ebenso aktuell ist wie damals. Weit über allen analogen oder digitalen Kommunikationserrungenschaften der letzten Dekaden bleibt nach wie vor das gesprochene Wort, die Pausen, das Ungesagte ebenso wichtig wie die genutzte Technologie. Die schreckliche Waffe, wie Cocteau das Telefon nannte, wird subjektiviert. Das Gerät gibt keine Antwort, wir wissen nicht, ob der Hörer die Botschaft erhalten hat oder nicht. Was ist Realität, Wahrheit, Fiktion oder Fantasie? Da sich Sängerin, Darsteller und Publikum frei durch den Raum bewegen, gibt es keine dominante Perspektive. Somit ist es dem Zuhörer überlassen, seine eigenen Eindrücke zu sammeln. Ein spannendes Konzept.
Zenaida des Aubris