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Aktuelle Aufführungen

Blick ins Ausland

THOMAS SØNDERGÅRD DIRIGIERT PROKOFJEW, SIBELIUS UND WEILL
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
20. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Berliner Philharmonie

So manches Festival in der Vergangenheit zeichnete sich, wenn schon nicht durch die stärkste Musik, so doch durch eine ausgefeilte Dramaturgie aus, die die Besucher in ihren Bann zog. Da kam so manch einer zu den Folgevorstellungen, weil ihm der ausgeklügelte Ablauf der Programmfolge gefiel. Und es gab Festivalleiter, die ihr Programm von Anfang bis Ende durchargumentieren konnten, so dass allein diese Geschichte schon mehr Lust machte auf mehr. Zugegeben, das war auch auf der Bühne, vor der das Publikum saß, eher die Ausnahme, aber ein Qualitätsmerkmal. Ebenso klar ist, dass viele Häuser gerade erst dabei sind, die Versäumnisse des vergangenen Jahrzehnts aufzuarbeiten, wenn sie sich jetzt mit dem Thema Internet auseinanderzusetzen beginnen. Mögen innere Widerstände dazukommen, scheinen viele Dinge, die auf der Bühne selbstverständlich waren, jetzt erst wiederentdeckt werden zu müssen.

Da bilden die Berliner Philharmoniker, die schon vor etlichen Jahren ihre Digital Concert Hall ins Leben riefen, um zusätzliche Geldquellen zu erschließen, ach, nein, um auch Nicht-Berlinern den Besuch ihrer Konzerte wenigstens online zu ermöglichen, eine löbliche Ausnahme. Umso kritischer muss nun der Blick ausfallen, wenn die interneterfahrenen Musiker ihr Festival Die Goldenen Zwanziger aufsetzen, das an diesem Abend in die dritte Runde geht und sich bislang – von Marginalien abgesehen – gut geschlagen hat. Und auch an diesem Abend werden Kameraführung, Tonqualität und das Spiel des Orchesters sowieso wieder unschlagbar sein. Dass Donald Runnicles pandemiebedingt verhindert ist und durch Thomas Søndergård ersetzt wird, mag sich mit Blick auf das Programm sogar ein Stück weit als Gewinn erweisen.

Foto © Frederike van der Straeten

Dass man den Eingangsclip über die Situation in den Zwanziger Jahren inzwischen fast schon auswendig mitsprechen kann, ist nach wie vor gewöhnungsbedürftig bei all dem Aufwand, der ansonsten für das Festival betrieben wird. Aber offenbar kann mit dem heutigen Abend ohnehin niemand so recht etwas anfangen. Und damit fällt auch die Anmoderation des Programms, die ebenfalls wieder von Noah Bendix-Bagley, Erster Konzertmeister, übernommen wird, eher ungewöhnlich aus. Man wolle heute einen Blick ins Ausland werfen, ohne allerdings den Schwerpunkt auf den Komponisten Kurt Weill aus den Augen zu verlieren. Es gebe eine großartige Oper eines russischen Komponisten, zu der man heute die Konzertsuite höre. Man spiele eine Symphonie eines finnischen Komponisten, die aber eigentlich hinter seiner weitaus bekannteren zurückstehe. Und es gebe eine ebenfalls wunderbare Oper von Weill, von der man aber ebenfalls nur die Konzertsuite spiele, die nicht von ihm stammt.

Das klingt eher nach Kuddelmuddel als nach einer stringenten Linie. Und das wird in der Pause noch komplettiert. Wer hier jetzt beispielsweise ein Gespräch über die musikalische Entwicklung der Goldenen Zwanziger im Ausland erwartet hätte, bekommt stattdessen einen Einspieler mit Dagmar Manzel und Originalbildern jener Zeit aus Berlin serviert. Die spricht den Text von Oliver Hilmes über das Lichterfest, das 1928 stattfand. Zweifelsohne ein hochinteressanter Beitrag und Manzel belässt es auch bei wenigen Fehlern im Vortrag, aber insgesamt wirkt das doch alles eher zusammengestoppelt. Zumal auch die Musik nicht ganz dem Niveau der Vorabende entspricht.

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1921 wurde in Chicago Die Liebe zu den drei Orangen von Sergej Prokofjew uraufgeführt. Das amerikanische Publikum reagierte eher verhalten. Inzwischen wird das Werk regelmäßig aufgeführt und erfreut sich größter Beliebtheit. Wie es sich für einen Komponisten gehört, vermarktete auch Prokofjew das Stück weiter und komponierte drei Jahre später eine Symphonische Suite dazu, also Musik, die ein Orchester auch gut ohne szenische Aufführung spielen konnte. Das führt zu Qualitätsverlusten, die dem Konzertgänger möglicherweise nicht auffallen, weil auch die „übriggebliebene“ Musik als eigenständiges Werk funktioniert, dem Opernkenner allerdings eher als Fragment erscheinen mag. Eine Art schmerzhaftes Nachwehen auf derzeit nicht stattfindende Opernaufführungen. Immerhin gelingt den Berliner Philharmonikern unter Søndergård, den frischen und forschen Klang der vorangegangenen Abende aufrechtzuerhalten.

Damit ist bei der Sechsten Symphonie von Jean Sibelius endgültig Schluss. Ein schon als lyrisch zu bezeichnendes Werk, das der Wildheit der Goldenen Zwanziger entgegensteht. Zweifellos und gerade in der gezeigten Aufführung ein hörenswertes Werk, das aber vollkommen aus dem Duktus fällt. Geradezu enttäuschend fällt dann auch der letzte Programmpunkt aus. Eine zweite Konzertsuite. Die nicht einmal vom Komponisten selbst stammt. Wilhelm Brückner-Rüggeberg entwickelte 38 Jahre nach der Uraufführung 1930 aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Kurt Weill nicht etwa ein Best of, sondern ein „eigenständiges Werk“. Das ist legitim, aber und gerade in dem Festival nicht zielführend. Und selbstverständlich kann und soll ein Festival auch ungewöhnliche Aufführungen zu Gehör bringen. Nur manchmal – da kann man mit einem einfachen Alabama-Song, frisch aufgespielt, nach einer Sibelius-Symphonie einen größeren Erfolg beim Publikum erzielen. Am 23. Februar passt es dann vielleicht wieder besser. Denn dann erklingt Tanzmusik aus dem legendären Kaffeehaus Moka Efti. Da wird dann hoffentlich auch der Charleston nicht fehlen. Denn bei aller Virtuosität eines Orchesters: Ein wenig Spaß gehört dazu.

Michael S. Zerban