O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ruth Walz

Aktuelle Aufführungen

Karfreitag ohne Zauber

PARSIFAL
(Richard Wagner)

Gesehen am
2. April 2021
(Premiere am 28. März 2015/Stream)

 

Staatsoper Berlin

Für viele Christen ist es zu Ostern eine Selbstverständlichkeit, einen Gottesdienst zu besuchen. Und für viele Wagnerianer ist es schon eine heilige Pflicht, am Karfreitag den Parsifal zu sehen. Normalerweise steht daher an vielen deutschen Opernhäusern am Karfreitag Wagners letztes Werk, sein „Bühnenweihfestspiel“, auf dem Spielplan. Doch wie schon im letzten Jahr ist aufgrund der Corona-Epidemie und der weltweiten Einschränkungen alles anders. Die Gotteshäuser sind weitestgehend verschlossen, die Opernbühnen verwaist. Rettung zum Heil geben da Möglichkeiten zum Video on Demand oder der Live-Stream. Aus dem Grand Théatre de Genève war eine gekürzte konzertante Fassung des Parsifal mit Publikum im Livestream angekündigt. Diese wurde aber aufgrund der aktuellen Pandemielage kurzfristig abgesagt. Also sucht man im Internet nach diversen Angeboten und wird schnell auf der Website der Staatsoper Berlin fündig, die ihre Inszenierung aus dem April 2015, damals noch wegen der Sanierung der Staatsoper Unter den Linden im Berliner Schillertheater aufgeführt, als Stream anbietet. Doch taugt diese Übertragung, den Geist des wunderbaren Werkes ins heimische Wohnzimmer zu bringen und dem süchtigen Wagnerianer Trost und Erlösung zu spenden? Nur bedingt, denn Regisseur Dmitri Tcherniakov hat mit dem Mythos um den Heiligen Gral und den religiös-christlichen Wurzeln dieses Werkes überhaupt nichts am Hut, und das Wort „Erlösung“ in der Wagnerschen Bedeutung scheint es bei ihm nicht zu geben. Es gab schon viele postapokalyptische Inszenierungen, aber diese radikale, zerstörende und teilweise verstörende Darstellung und Interpretation ist neu. Aber ist sie auch diskussionswürdig?

Der erste Aufzug spielt in der Halle eines heruntergekommenen Gebäudes, in braunen und ockerfarbenen Tönen gehalten, ein dunkler, schmutziger Ort, wo nur noch diejenigen zusammenkommen, die am Rande der Gesellschaft leben. Obdachlose, Junkies, Kleinkriminelle. Das Bühnenbild stammt im Übrigen ebenfalls von Tcherniakov. Die Gralsbruderschaft haust in diesen Gemäuern, schmuddelig gekleidet, lange Haare und Bärte, ein Verein der Hoffnungslosen, der Perspektivlosen. Die Kostüme stammen von Elena Zaytseva.

Gurnemanz, mit einer uniformähnlichen Jacke bekleidet, versucht zumindest, an bessere Zeiten zu erinnern; während seines langen Monologes zeigt er Dias, die Bilder und Skizzen von der Uraufführung des Parsifal 1882 in Bayreuth zeigen. Amfortas, mit weißer Hose und blutdurchtränktem, weißem Shirt, wird in eine Decke gehüllt in den Saal geführt. Dieser Amfortas ist kein siechender, nicht-sterben-könnender Verwundeter, sondern ein aggressiver, um sein Leben kämpfender Gralshüter. Und Parsifal, der tumbe Tor, erscheint mit seinem Dschungelshirt und seinem riesigen Armeerucksack eher als traumatisierter Deserteur einer paramilitärischen Organisation. Statt Pfeil und Bogen ist er mit einem Sturmgewehr bewaffnet, der sich nach Eintreffen in den „heiligen Hallen“ der Gralsbruderschaft erstmal umzieht. Das ist so ein Markenzeichen von Tcherniakov, dieses zwanghafte Entkleiden, was nicht nur bei Parsifal, sondern auch bei Kundry und Amfortas zu beobachten ist.

Foto © Ruth Walz

Eins ist schnell klar: Der Regisseur versucht mit tiefenpsychologischer Deutung die Traumata der handelnden Personen offen zu legen, doch mit seinem Ansatz bleibt er leider in den Niederungen der Küchenpsychologie hängen. Parsifal schleppt einen großen Rucksack mit sich rum, also viel traumatischer Ballast, den er in seinem jungen Leben aufgeladen hat. Kundry, mit einem abgewetzten Mantel, ist selbst traumatisiert und beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung am Boden, denn mit dieser Männergesellschaft ist nicht zu spaßen. Das bekommt Amfortas deutlich zu spüren, als es mal wieder um die Enthüllung des Grals geht. Zunächst waschen sich alle in der Halle Versammelten in einer Art ritueller Handlung das Gesicht, dann wird der Sarg Titurels in die Halle getragen. Anschließend erscheint Amfortas Vater höchst lebendig, mit einem schwarz-braunen Ledermantel bekleidet, mit den Gralsrittern, um sich dann bequem in den Sarg zu legen und seinen Sohn Amfortas zur Ausübung seines Amtes zu zwingen. Der will natürlich nicht, doch gegen die emotionslose und brutale, egoistisch denkende Bruderschaft hat er keine Chance. Ihm wird der Verband vom Leib gerissen, und man sieht die große, nicht heilende Wunde, die Klingsor ihm mit dem Speer geschlagen hat. Den Maskenbildnern gebührt an dieser Stelle ein Sonderlob, denn die in der Kameraeinstellung gewählte Nahaufnahme der Wunde wirkt täuschend echt. Das folgende Ritual ist eins von diesen radikalen und drastischen Bildern, die Tcherniakov wählt, um den um mystische Weihe besorgten Wagnerianer von seinem Irrglauben zu erlösen. Mit aller Gewalt wird dem Gralskönig das Blut aus der Wunde abgezapft, bis er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann und zusammenbricht. Die Gralsritter verteilen wie wild gewordene Zombies das Blut unter sich und halten sich so am Leben. Nehmet hin mein Blut, nehmet hin meinen Leib, diese Stelle des Chors der Gralsritter nimmt Regisseur Tcherniakov also wörtlich. Anschließend legen sich alle auf den Boden, wie bei einer Sekte, die absolute Unterwürfigkeit verlangt. Auch Titurel scheint von der Blutspeise zu profitieren und erhebt sich putzmunter, seinen siechen Sohn keines Blickes würdigend, wie der Herr der Untoten aus dem Sarg und schreitet mit den Gralsrittern aus der Halle. Parsifal hat dieses Ritual nicht verstanden und wird von Gurnemanz, nun auch mit einer verfilzten Stickmütze auf dem Kopf, aus der Halle gejagt.

Der zweite Aufzug spielt in derselben Halle wie im ersten Aufzug, nur ist jetzt alles weiß und klinisch steril. Zwei weiße Bänke und ein Drehstuhl, das ist also Klingsors Zaubergarten. Klingsor erscheint als gefährlicher Zwangsneurotiker in Strickweste und Filzpantoffeln, der sich das wenige Haar zwanghaft zur Seite kämmt. Die Blumenmädchen sind alles seine Mätressen und Kinder oder beides. Alle tragen sie geblümte Kleider und sind in ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit doch genauso ausdruckslos und unempathisch wie die Gralsritter. Auch dieses Szenar hat etwas unnatürlich Sektenhaftes, von Zauberkraft und Verwandlungsfähigkeit ist weder bei Klingsor noch bei Kundry was zu spüren. Sie erscheint hier nicht als die große Verführerin, sondern in dem gleichen vergammelten Outfit wie im ersten Aufzug. Sie ist mehr Therapeutin, mehr verständnisvolle Tante, die dem kleinen Parsifal sein Mutter- und Kindheitstrauma nehmen will. Mit einer Spieluhr, auf der sich eine Reiterfigur dreht, erzählt sie ihm sein Leben. Dazu spielen Doubles Parsifals und seine Mutter Herzeleide das Erzählte nach. Auch seine ersten sexuellen Abenteuer darf dieser erleben, als er unbeholfen die nackten Brüste einer jungen Frau betatschen darf, zu den Klängen Ich sah das Kind an seiner Mutter Brust. Parsifal und Kundry pushen sich hoch, am Ende gibt es sogar physische Gewalt zwischen den beiden. Auch Kundry versucht, ihr Trauma zu bewältigen, in dem sie das blutgetränkte Oberteil Amfortas trägt, während Parsifal sich mal wieder umzieht, mit Kampfhose, Springerstiefel und den Kapuzenpullover gegen eine schwarze Lederjacke eintauschend, wirkt er wie ein einsamer Kämpfer gegen die bösen Mächte. Und dann erscheint Klingsor in seinen Filzpantoffeln, aber einen Riesenspeer in der Hand, den er kaum halten kann. Und der wird schnelle Beute von Parsifal, der unter dem entsetzten Gesichtsausdruck der ganzen Blumenkinderschar Klingsor ersticht, wobei ihm da eine satte Ladung Blut ins Gesicht spritzt.

Im dritten Aufzug finden wir wieder dasselbe Bühnenbild wie schon im ersten, die schmutzige, düstere Halle. Das zwischen dem zweiten und dritten Aufzug eine lange Zeit liegt, löst Regisseur Tcherniakov damit, dass alle Gralsritter und Gurnemanz nun lange Bärte tragen. Gurnemanz schaut wieder auf seine Dias und erinnert sich wohl wehmütig an gute alte Zeiten, während Kundry eingewickelt in eine Decke am Boden liegend vor sich hin stöhnt. Nun taucht auch Parsifal auf, und sein Heil mir, dass ich dich wiederfinde adressiert er fälschlicherweise an Kundry, denn eigentlich ist mit dieser frohen Botschaft Gurnemanz gemeint. Nun erkennt Gurnemanz in Parsifal den neuen Gralshüter, und dem Ritual der Fußwaschung und Hauptsalbung verweigert sich Tcherniakov erstaunlicherweise nicht, obwohl es in diesem szenischen Kontext schon absurd wirkt. Parsifal, nachdem er die Taufe entgegengenommen hat, nimmt Kundry zärtlich in die Arme, die dabei in einen Weinkrampf ausbricht. Es ist der einzige wirkliche emotionale und zutiefst menschliche Moment in einer ansonsten kalten und inhumanen Inszenierung.

Zum „Karfreitagszauber“ reicht Kundry dem geläuterten Parsifal eine Puppe mit Blumengewand, doch er hat mehr Augen für die Spieluhr mit Reiterfigur aus Kindertagen, wieder Küchenpsychologie aus dem dritten Semester Regiearbeit. Aus dem Hintergrund schleicht sich ein äußerst agiler Amfortas an den Sarg mit dem mittlerweile verstorbenen Titurel heran und versucht vergeblich, ihn zu öffnen. Dann erscheinen aggressive Gralsritter, süchtig nach ihrer Speisung, und bedrängen Amfortas zum letzten Mal! Während Amfortas seinen toten Vater Titurel aus dem mittlerweile geöffneten und umgekippten Sarg zieht und die Gralsritter um die Erlösung des Todes bittet, erscheint Parsifal mit dem Speer und legt ihn Amfortas zu Füßen. Die Handlung auf der Bühne spricht diametral entgegengesetzt zu Parsifals Worten, der an dieser Stelle ja das Amt des Amfortas übernimmt. Amfortas, irgendwie beglückt, nimmt Kundry in die Arme, und die beiden küssen sich leidenschaftlich. Das geht Gurnemanz, dem eigentlichen Gralshüter, dann doch entschieden zu weit, und er ersticht Kundry hinterrücks. Während Parsifal mit der toten Kundry auf den Armen verschwindet, verfallen die Gralsritter in wahnsinnige Ekstase. Was für ein Schluss des Bühnenweihfestspiels.

Tcherniakov kann drastische Bilder auf die Bühne bringen, dass muss man ihm schon lassen, aber das tiefenpsychologische Band der handelnden Personen untereinander hat er nicht aufzeigen können. Er gefällt sich in destruktiven und werkverfälschenden Inszenierungen, mit denen jeder Regiestudent von der Hochschule fliegen würde. Aber es scheint ja schick und angesagt, solche Werkverfälscher zu engagieren, um das dumme Publikum für noch dümmer zu verkaufen. Das Tcherniakov immer noch en vogue ist, zeigt die Neuinszenierung des Münchener Freischütz, die vor wenigen Wochen im Livestream zu sehen war. Auch dieses Werk hat er mal komplett auf links gedreht. Die Frage ist, wie lange sich das Publikum das noch gefallen lässt. Bei der Premiere des Parsifal hat Regisseur Tcherniakov zwar viele Buhs entgegennehmen müssen, aber die sind ja bewusst einkalkuliert und festigen den Ruf des „Enfant terrible“ der Opernregie.

Foto © Ruth Walz

Was bleibt, ist immer noch die wunderbare Musik Richard Wagners und die Interpretation durch ein großartiges Ensemble, das den Abend trotz einer unansehnlichen Inszenierung zumindest sängerisch rettet. Andreas Schager, der in dieser Inszenierung bei der Premiere sein Rollendebüt gab, singt die Partie des Parsifal mit intelligenter Krafteinteilung. Sein strahlkräftiger Tenor mit baritonalem Timbre meistert die Höhen ohne Probleme, sein Amfortas! Die Wunde! ist erschütternd. René Pape hat mit der Partie des Gurnemanz sicher seine Lebensrolle gefunden, so verinnerlicht hat er diese Figur. Mit klarem Bass und beeindruckender Textverständlichkeit legt er die Partie an. Seine große Erzählung im ersten Aufzug singt er balsamisch und mit deutlichen Phrasierungen und Bögen, die eine große Spannung aufbauen. Besonders eindrucksvoll gelingt ihm das im dritten Aufzug in der Salbungs- und Krönungsszene sowie dem anschließenden Karfreitagszauber. Anja Kampe gibt die Kundry mit warmem und vollklingendem hochdramatischem Sopran sowie klaren Höhen und meistert darstellerisch beeindruckend den szenischen Wechsel von der gejagten Furie bis hin zur liebenden Gefährtin. Wolfgang Koch beeindruckt als Amfortas mit kultiviertem, wohlklingendem Bariton und ausdrucksstarker Leidensfähigkeit. Seine Erbarmen-Rufe erschüttern, und die letzte Szene ist von großer Emotionalität. Tómas Tómasson bleibt als Klingsor im Ausdruck etwas blass. Altmeister Matthias Hölle gibt den Titurel mit wohltönendem Bass, und das Alt-Solo von Annika Schlicht aus der Höhe passt stimmlich gut zum Gesang auf der Bühne. Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen fügen sich harmonisch in das Gesamtensemble ein. Beeindruckend auch der von Martin Wright einstudierte Staatsopernchor und Konzertchor der Berliner Staatsoper. Daniel Barenboim leitet die Staatskapelle Berlin mit großem Gefühl und lässt durch sein unprätentiöses Dirigat wunderbare Phrasierungen und Akzentuierungen zu. Das Vorspiel hat schon fast sakralen Charakter, das Tempo ist moderat, manchmal etwas breit. Beeindruckend seine präzisen Einsätze, die das Gesamtensemble aus Musikern, Solisten und Chor zu einer homogenen Gestaltung führt, ein insgesamt ergreifendes musikalisches Klangerlebnis, dass in einem großen Kontrast zu der Handlung auf der Bühne steht.

Zum Schluss sieht man in dieser Aufzeichnung bei den letzten Klängen des Parsifal den Dirigenten Daniel Barenboim, wie er fast ausdruckslos den Taktstock senkt. Was mag ihm, der schon so viele unterschiedliche Aufführungen des Werkes dirigiert hat, angesichts dieser Inszenierung durch den Kopf gegangen sein?  Nach einer kurzen Stille bricht der jubelnde Applaus des Publikums los, der vor allem den Hauptprotagonisten des Abends gilt. Ein Buhruf ist nicht zu vernehmen, der Regisseur war ja bei dieser Aufzeichnung nicht mehr vor Ort. Nach knapp viereinhalb Stunden reiner Spielzeit endet die Inszenierung von Dimitri Tcherniakov dann doch noch mit einer Erlösung, nämlich diese Inszenierung ausgehalten zu haben. Auch wenn es ein Karfreitag ohne Zauber war, die eigentliche Erlösung erfolgte durch die Kraft der Musik von Richard Wagner.

Andreas H. Hölscher