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Glanz in der Hütte

KIRILL PETRENKO DIRIGIERT WEILL UND STRAWINSKY
(Kurt Weill, Igor Strawinsky)

Gesehen am
13. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Berliner Philharmonie

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs galt es aufzuräumen. Vor allem in politischer Hinsicht musste vieles repariert werden. Die Wirtschaft hingegen war sehr viel schneller wieder in Schwung. Und so gerieten die Jahre ab 1924 – in Deutschland eher ab 1926 – zu einem ungeheuren Konjunkturaufschwung, der mit dem Schwarzen Donnerstag, dem Crash der New Yorker Börse 1929 sein jähes Ende fand. Nachträglich bekam diese Zeit einen Namen: Es waren die Goldenen Zwanziger. Eine romantisierende Bezeichnung für eine Zeit, in der die soziale Schere weit auseinanderschwang. Und eine Zeit, über die wir uns gut informieren sollten, um uns für das zu wappnen, was nach dem so genannten Lockdown kommt.

Einen Denkanstoß gibt es jetzt von den Berliner Philharmonikern. Die feiern vom 13. bis zum 27. Februar ihr Online-Festival Die Goldenen Zwanziger in ihrer Digital Concert Hall. Im Gegensatz zu anderen Konzertveranstaltern und Theaterhäusern haben sich die Berliner Philharmoniker nämlich vor einigen Jahren bereits darum gekümmert, auch ein attraktives Online-Angebot zu schaffen. Heute verfügt das Orchester über ein professionelles Studio und Menschen, die sich mit der Aufnahme- und Übertragungstechnik auskennen. Hier sollte also das nötige Know-how vorhanden sein, um einen Livestream nach heute möglichen Standards zu zeigen. Wer sich bislang mit dem Angebot der Digital Concert Hall nicht befasst hat, weil sie auch im Gegensatz zu vielen anderen Angeboten kostenpflichtig ist, könnte das Festival mit seinem attraktiven Programm zum Anlass nehmen, vielleicht doch mal einen Blick zu riskieren.

Eröffnet wird das Festival jedenfalls mit zwei ungewöhnlichen Werken. Mit Kirill Petrenko am Pult lassen sich die Musiker auf die Symphonie in einem Satz von Kurt Weill ein, dem Komponisten, dem der Schwerpunkt des Festivals gewidmet ist. Als Student Ferruccio Busonis hatte Weill die Symphonie noch vor Ende seines Studiums beendet. Da hören viele Musik-Experten die Einflüsse anderer Komponisten heraus und können das auch nicht oft genug betonen. Sieht man es weniger partiturgeil und lässt sich auf die Musik ein, hört man da möglicherweise einen ganzen Tag in Berlin. Assoziationen zu Leonard Bernsteins An American in Paris sind durchaus erlaubt. Herrlich.

Bildschirmfoto

Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist man ohnehin von der Festivaleröffnung begeistert. Die Übertragungsqualität ist erstklassig. Pünktlich beginnt die Übertragung mit einem Vorspann, ehe der Erste Konzertmeister, Noah Bendix-Bagley, mit einem kurzen und kurzweiligen Vortrag in die Goldenen Zwanziger und anschließend in den heutigen Abend einführt. Hier kann man ohne Einbußen in den Vollbildmodus hochschalten, der Klang ist auch auf den heimischen Lautsprechern ein Genuss und die Kameraführung ist vom Feinsten. Klagen gibt es auf eindeutig hohem Niveau, wenn die Aufführungszeiten fehlen und ein Interview, das vor dem Konzert zwischen dem Cellisten Martin Menking und Kirill Petrenko angekündigt war, erst in der Pause stattfindet – ärgerlich deshalb, weil man zu dem Zeitpunkt den Internetauftritt schon zwei Mal abgesucht hat.

Vergessen ist das spätestens zum zweiten Teil des Abends, der kaum gegensätzlicher sein könnte. Igor Strawinsky hat sein Opern-Oratorium Oedipus rex als erfahrener Komponist 1927, also in einer geradezu euphorischen Phase des Aufbruchs, verfasst. Er erzählt die Oedipus-Geschichte mit nahezu emotionsloser Distanz, hat darauf bestanden, dass die Rolle des Erzählers in der Landessprache dargebracht wird. Da wird schon viel von Bertolt Brechts Epischem Theater erkennbar.

Bibiana Beglau übernimmt die Rolle des Erzählers, und sie kann die Zuschauer auf Anhieb überzeugen. Sie erzählt eine spannende Geschichte und nimmt das Publikum damit mit auf die musikalische Reise, die unter anderem von den Herren des Rundfunkchors Berlin packend gestaltet wird. Als Oedipus tritt der Tenor Michael Spyres auf und begeistert mit seinem Klang. Was der hier rein konzertanten Aufführung zuspielt, ist die Vorstellung Strawinskys, dass die Darsteller sich auf der Bühne nicht bewegen. Ekaterina Semenchuk wird der anspruchsvollen Rolle der Jokasta gerecht, ohne Rosen auf die Bühne streuen zu wollen. Andrea Mastroni spielt seinen Bass als Tiresias ebenso gekonnt aus wie Derek Walton als Bote. Tenor Krystian Adam rundet die Gesamterscheinung als Hirte ab.

Wenn Oedipus schließlich geblendet ist, geht ein spannungsvoller Abend zu Ende, den Petrenko umsichtig, mitunter euphorisch, immer aber freundlich leitet. Das gefällt nicht nur den Berliner Philharmonikern, sondern auch dem Publikum, das sich auf die nächste Aufführung am kommenden Dienstag freuen darf. Dann wird Marie Jacquot die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker durch die Werke von Hanns Eisler und Kurt Weill geleiten. Die Qualität der heute gezeigten Aufführung macht jedenfalls Lust auf die Fortsetzung.

Michael S. Zerban