O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Janáčeks realistischer Expressionismus

JENŮFA
(Leoš Janáček)

Gesehen am
13. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Staatsoper Unter den Linden, Berlin

Wieder eine in Corona-Zeiten gerettete Produktion. Die Staatsoper Unter den Linden in Berlin bringt eine Neuproduktion von Leoš Janáčeks Jenůfa. Es ist zugleich die erste Regiearbeit von Damiano Michielettos am Hause und die Fortsetzung der Auseinandersetzung von Sir Simon Rattle mit den Opern Janáčeks.

Die 1904 in Brünn uraufgeführte Jenůfa brachte Leoš Janáček später den Durchbruch als anerkannter Opernkomponist. Lange musste das Werk wohlmeinende Verbesserungen ertragen. Erst die Fassung, die der große Janáček-Dirigent Charles Mackerras zusammen mit John Tyrell 1982 angefertigt und anschließend auch auf Tonträger gebannt hat, entspricht der ursprünglich vom Komponisten gewünschten Gestalt. Die liegt auch der Berliner Aufführung zugrunde, bei der allerdings Simon Rattle leichte Anpassungen bei den Holzbläserbesetzungen vornehmen musste, um den Corona-Hygienebedingungen im Graben zu genügen. Das führt allerdings im Klangbild zu keinerlei Beeinträchtigungen.

Der ursprüngliche Titel des Stücks ist Její pastorkyňa, zu Deutsch: ihre Stieftochter. Es ist zugleich der Titel der Textvorlage von Gabriela Preissová. Das bei der Prager Uraufführung als moralisch verstörend empfundene Schauspiel wurde nach nur fünf Vorstellungen abgesetzt. Es erzählt eine Geschichte aus dem mährischen Leben auf dem Land. Getragen wird die Handlung durch drei Generationen von Frauen, die mit ihren Männern aus der Familie der Buryja Gewalt, Alkoholismus und unglückliche Mutterschaft durchleiden. Im Zentrum steht die Küsterin Buryjovka, die unglücklich mit Toma Buryja verheiratet war, der alles Vermögen durch Alkoholismus verspielt hat. Dessen Tochter aus erster Ehe, Jenůfa, hat sie zu sich genommen und auf diese projiziert sie all ihre Hoffnung auf Glück und Wiedergutmachung für das, was sie im eigenen Leben erlitten und verloren hat.

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Die alte Buryovka, Mutter des verstorbenen Mannes der Küsterin, ist zugleich auch Großmutter Stevas, mit dem Jenůfa eine Beziehung unterhält und von dem sie heimlich ein Kind erwartet. Die alte Buryovka ist außerdem Großmutter von Stevas Halbbruder Laca, der ebenfalls Jenůfa liebt.

Steva will Jenůfa heiraten. Als Laca aus Eifersucht in einem Handgemenge Jenůfa mit einem Messer verletzt und im Gesicht entstellt, zieht er sich zurück. Er fürchtet auch die unnachgiebige Haltung und Strenge der Küsterin, die ihn immer wieder ermahnt, wenn er betrunken feiert. Für die Küsterin rufen die Begegnungen mit Steva Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann hervor sowie folgerichtig zugleich das Bewusstsein von Traumatisierung und materieller Verarmung, aus der sie sich nur langsam und unter hartem Verzicht wieder herausarbeitet. Sie fürchtet, dass sich ihr eigenes Schicksal bei Jenůfa mit einem Mann aus derselben Familie wiederholt.

Als das Kind Jenůfas zur Welt gekommen ist, Steva sich trotz demütigenden Bittens der Küsterin auch angesichts des gemeinsamen Kindes nicht zu Jenůfa bekennt und sie endgültig verlässt, erzählt die Küsterin dem noch immer Jenůfa liebenden Laca, dass das Kind Jenůfas gestorben sei. Sie betäubt Jenůfa und tötet das Kind, indem sie es unter das Eis steckt. Jenůfa erklärt sie, ihr Kind sei an einer Krankheit verstorben. Als das Dorf schließlich die Hochzeit von Jenůfa und Laca begeht, wird der Leichnam des Kindes entdeckt. Die Küsterin gesteht die Tat. Jenůfa verzeiht ihr im Angesicht der fassungslosen Dorfgemeinschaft. Laca und Jenůfa beteuern sich ihre Liebe vor einer ungewissen Zukunft.

Dem Regieteam unter Damiano Michieletto mit seinem Bühnenbildner Paolo Fantin, der Beleuchtung von Alessandro Carletti sowie den Kostümen von Carla Teti gelingt eine grandiose Umsetzung des Dramas. In einem Bild mit hellen, licht-durchlässigen Seitenaufbauten sowie nur eine geringe Zahl von realen Elementen wie dem kleinen Altar der Küsterin, einigen Bänken und dem roten Faden, aus dem Jenůfa das Wickeltuch für ihren Säugling strickt, entsteht eine psychologische Plattform für das in der Personenregie so klug wie unauffällige Interagieren der Frauen und der Dorfgemeinschaft.

Die zunehmenden Angstzustände Jenůfas und das Leid der unter dem Druck ihrer eigenen Schuld gebeugten Küsterin werden ab dem zweiten Akt durch einen sich vom Bühnenhimmel langsam herab-bewegenden, großen Eisblock symbolisiert, der im letzten Akt zu schmelzen und zu tropfen beginnt und unter dem die Küsterin wie in einer aufgetauten Bruchstelle des Eises unterzugehen droht.

Die empathische Ausdruckskraft in der Personenführung zusammen mit der von Janáček so einzigartig intonierten, eher gesprochenen tschechischen Sprache, ermöglicht es, die nach dem Kindsmord erfolgende Verzeihung Jenůfas der Küsterin gegenüber und den kleinen Hoffnungsschimmer einer sich entwickelnden Paarbeziehung mit schwerer, unbestimmter Zukunft glaubhaft darzustellen. Dabei entwickelt sich die Geschichte unter einem Spannungsbogen, dessen Intensität wie in einem Krimi niemals nachlässt.

Evelyn Herlitzius als Küsterin strahlt vom Moment ihrer Erscheinung an die Angespanntheit einer durch Gewalt, Demütigung und Enttäuschung geprägten Seele aus, deren verbleibende Hoffnungen traumatisch auf Jenůfa fixiert sind. Der stimmliche und darstellerische Gestaltungsbogen der Sängerin erscheinen unendlich. Sie vermag Härte und Selbstdisziplin ebenso zu verkörpern wie Liebe und Hoffnung. Die in der Handlung sich ausweglos andeutende Wiederholung ihres Schicksals bei ihrer Tochter Jenůfa führt in die Katastrophe. Die beklemmende Szene ihres eigenen Schuld-Zerbrechens zum Ende des zweiten Aktes lässt dem Zuschauer das Blut gefrieren.

Foto © Bernd Uhlig

Camilla Nyland hat sich mit der Jenůfa eine weitere Partie auf dem Höhepunkt ihrer Sängerlaufbahn erarbeitet, die den Vergleich mit den großen Vorbildern der Vergangenheit nicht zu scheuen braucht. Die lyrische und dramatische Ausdruckskraft der Stimme sowie eine überzeugende darstellerische Umsetzung der Rolle gelingt auf anrührende Weise. Die Sängerin meistert die Rolle der Jenůfa als zentralen Ausdruck von Hoffnung und Verzeihung in bewegender Form – letztlich die Kernbotschaft des Werkes.

Hanna Schwarz schließlich als alte Buryjovka stellt die erste Generation der Frauen dar. Nach und trotz ihres langen Erlebens von Gewalt und Angst wünscht sie, dass die Zukunft ihrer Familie den Paaren friedliches Zusammenleben und Glück erlauben. Ihre andächtigen Ansprachen und Segnungen der Jüngeren strahlen diese demütige Zuversicht in den ewigen Zeitläuften aus. Schwarz meistert die Rolle in dem ihr eigenen, großen Format. Ladislav Elgr gibt einen schlanken, machogetränkten und in hohem Maße selbstgefährdeten Steva, der vor jeder Verantwortung davonläuft. Der tragfähige, ausdrucksstarke Tenor des Sängers überzeugt in allen stimmlichen Anforderungen und szenischen Herausforderungen. Stuart Skelton verkörpert einen eher linkischen, weniger attraktiven Laca, der für seine Liebe einen langen Weg zu gehen bereit ist. Skeltons stimmliche Kraft und angesichts des Charakters stark zurückgenommene schauspielerische Geste werden der Rolle perfekt gerecht. Das Ensemble weist auch in allen weiteren Partien eine perfekte Besetzung aus. Man kann gar nicht erwarten, die Produktion eines Tages live auf der Bühne zu betrachten.

Der Staatsopernchor unter der Leitung von Martin Wright ist über das Auditorium verteilt. Er wird den stimmlichen Anforderungen auch im tschechischen Sprachduktus bestens gerecht. Wie er wohl bei einer Nach-Pandemie-Aufführung szenisch integriert wird?

Die Staatskapelle Berlin unter Simon Rattle übertrifft sich selbst. Die musikalisch-sprachlichen Phrasen und Motivstrukturen sind in der Interaktion der Orchestergruppen bis ins kleinste Detail, selbst zum Beispiel dem Klang der Harfen, nachzuvollziehen. Die mit den Sängern abgestimmten Gesangslinien und deren Begleitung oder Kommentierung auf das liebevollste ausgearbeitet.

Die Qualität der Aufzeichnung des Streams ist tadellos, szenisch wie auch klanglich. Die Begleitung der Personen auf der Bühne gelingt in hohem Maße sinnvoll und mit eindrucksvoller und sinnfälliger Bildauswahl. Die Aufzeichnung der Aufführung kann noch bis zum 15. März 2021 kostenlos in der 3Sat-Mediathek angeschaut werden.

Achim Dombrowski