O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bernd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Siegfrieds Verrat

GÖTTERDÄMMERUNG
(Richard Wagner)

Besuch am
21. November 2021
(Premiere am 17. Oktober 2021)

 

Deutsche Oper Berlin

Stefan Herheim und sein Team Silke Bauer, zusammen mit ihm selbst für die Bühne, Uta Heisike für Kostüme, Ulrich Niepel für Licht und Torge Møller für die Videokunst vollenden ihren Ring des Nibelungen an der Deutschen Oper Berlin. Die Konzeption an insgesamt vier Abenden ist durch herausragende und prägende Spiel- und Darstellungselemente miteinander verknüpft. Was sind Hauptmerkmale und was zeichnet das Konzept aus?

Darsteller und Statistengruppen unterschiedlichen Alters irren, stolpern, fallen in allen Teilen der Tetralogie über große Kofferberge, die als Hindernisse zugleich stumme Zeugen von Verunsicherung, Vertreibung, Angst, Flucht und Suche sind. Jeder Akteur des Geschehens – ob willentlich oder nicht – hat Einfluss auf diese Ereignisse. Mit jeder Aktion wird die entwurzelte Welt erneut in Schwingung gebracht, irren weitere Menschen durch die Szene, gerät die schon lange unkalkulierbare Drehung des Globus in ein neues Momentum. Alles hängt miteinander zusammen, ist aus den Fugen und schlingert einer ungewissen Zukunft entgegen. Sehr deutlich wird das noch einmal in der Nornenszene der Götterdämmerung, in der sich die Schicksalsgöttinnen mit einer Menschenkette gemeinsam bewegen und verstricken.

Herheim ist wichtig, trotz dieser Thematik allem Pathos, aller großen Geste entschieden aus dem Weg zu gehen. Die oft mit Videoeinspielungen begleiteten Szenen haben ausdrücklich spielerischen Charakter, sind mitunter farbenfroh, scheinen sich nicht selten über sich selbst zu amüsieren. Die Theatermittel wie Stoffbahnen, Pantomimen oder Ähnliches werden in ihrer Mechanik offen gezeigt. Es wird deutlich, dass das Spiel für den Menschen das einzige Mittel ist, die Wirklichkeit zumindest staunend näherungsweise zu sehen, jedoch noch lange nicht zu erfassen.

Mitunter sind die Darsteller verschiedener Rollen auch ohne ihre äußere Hülle, ihre Kostümierung zu sehen, die ihnen Haltung und Würde in ihren gesellschaftlichen Rollen sich selbst und anderen gegenüber verleihen. Die Sänger und Statisten treten dann wie selbstverständlich in Unterwäsche auf, bar ihrer Funktion, der Kreatürlichkeit näher. Das Ablegen der Kleidung oder Kostümierung bezeichnet jeweils das Verlassen einer Rolle im Spiel und vermittelt zugleich die Verletzlichkeit des Menschen außerhalb seiner Rolle, seine ursprüngliche und gefährdete Fraktur. Selbst Wotan tritt kurz in dieser Weise auf.

Alberich erscheint in der Maske des Jokers aus dem Film Gotham City wie ein zwielichtiger Clown und versinkt in immer tiefere Negativität. Diese Maske wiederholt sich bei seinem Sohn Hagen und wird auch als doppelte Tarnkappe am Ende des ersten Aktes der Götterdämmerung bei der Überwältigung Brünnhildes durch Siegfried und Gunter eingesetzt.

Eine andere Doppelrolle übernimmt die Figur des Zwergen Mime, der wiederholt auch als Richard Wagner selbst mit seinem Barrett agiert. So zieht er den Schöpfer des Werkes selbst spielerisch auf die Bühne. Mittels einer weiteren Spielebene an allen vier Abenden ist ein großer, in der Mitte der Vorderbühne postierter, versenkbarer Flügel nebst zugehörigem Klavierauszug des jeweils präsentierten Werkes. Verschiedene Protagonisten treiben durch kraftvolles Spiel auf dem Instrument andere Handlungsträger und die Geschehnisse voran. An diesem Instrument entsteht das Riesenwerk, ihm entsteigen und in ihm verschwinden diverse Figuren, nicht zuletzt wird auch Brünnhilde aus dem Instrument auf die Szene gehoben.

Viele dieser Ebenen sind gleichzeitig sichtbar und durchdringen einander, eine ganz typische Eigenart der Regiehandschrift Herheims. Man tut gut daran, die vier Abende des Zyklus in Summe auf sich wirken zu lassen, um die Dynamiken, Bilder, Aktionen über die Zeit in der eigenen Imagination zu verknüpfen. Denn die Struktur ist in sinngebender Abstufung und sukzessivem Aufbau über viele Stunden Musik angelegt und verwoben. Manches, was zu Beginn überbordend und unübersichtlich scheint, wird in der Entfaltung der Erzählung als von Anfang an zwingend für die Fortentwicklung erkannt und mindestens im Blick zurück erhellend. Unmerklich werden in der bildhaften Erzählstruktur Merker gesetzt, an die man sich später – auch werkübergreifend – erinnert, und die wesentliche Zusammenhänge offenbaren.

In der Handlung der Götterdämmerung verrät Siegfried in einer von Hagen gesponnenen Intrige seine ihm in Liebe ergebene Brünnhilde, um diese für Gunter als Frau zu gewinnen. Brünnhilde wird sodann ihrerseits von Hagen zur Rache angetrieben, in deren Vollzug Hagen schließlich Siegfried erschlägt. Brünnhilde folgt Siegfried in das Feuer, das ihn nach seinem Tode aufnimmt. In ihrer Liebe überträgt sie die Flammen ihres und Siegfrieds Scheiterhaufens auf Wotan und alle Götter, die darin vergehen. Das von Alberich verfluchte Rheingold gelangt aus dem Feuer zurück in den unschuldigen Ur-Zustand auf dem Grunde des Rheins. Der Kreislauf des vierteiligen Riesenwerkes ist geschlossen. Es kann von Neuem beginnen.

In diesem letzten Baustein des Zyklus ist der Betrachter bei Herheim szenisch im Hier und Jetzt angekommen. Wir sehen eine aktuelle Öffentlichkeit in der Abbildung des Foyers der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne gespiegelt. Während der Vorstellung erstrahlt das Licht im Zuschauerraum mehrfach hell, um eine weitere Achse zum Publikum zu legen.

Besonders eindringlich ist der Betrug an Brünnhilde ausgearbeitet. Anders als in Text und Partitur erscheint nicht nur Siegfried mit Hilfe des Tarnhelms in Gunters Gestalt, sondern nähern sich Siegfried und Gunter gemeinsam in anonymisierter, schon vom zerstörten Alberich getragenen Jokermaske, um Brünnhilde Gewalt anzutun. Siegfrieds Verse werden im Wechsel von beiden vorgetragen. Die Szene suggeriert gleichsam eine Vergewaltigung durch zwei Männer. Siegfried vollführt zusammen mit seinem Kumpanen Gunter eine jungenhaft-unverantwortliche Gewalttat, deren Schuldhaftigkeit er mindestens unterbewusst spürt. Der von Hagen zuvor angeblich gereichte Vergessenstrank existiert gar nicht.

Auch später agiert er kindlich-unverantwortlich: In der Begegnung mit den Rheintöchtern will er den verfluchten Ring aus dem Gold des Rheins nicht hingeben, auch nicht als die Reintöchter unvermittelt als Nornen und Schicksalsgöttinnen erscheinen und ihn um den Preis seines Lebens warnen.

Eindrucksvoll die bildhafte Erscheinung der Götter im Hintergrund. Wotan sitzt mit seiner Familie leblos und stumm. Er muss mit ansehen, wie Hagen Siegfried als seinem Geschöpf den Kopf abschlägt und ihn hämisch als Trophäe seines Untergangs präsentiert. Hagens Speer ist nichts anderes als ein Stück von Wotans einstmals mächtiger, Macht verleihender Waffe, die ihm ein übermütiger Siegfried zuvor zerbrach und Hagen nun entwendet.

Noch ergreifender ist die Begegnung von Wotan und Brünnhilde – er reagiert nicht auf die Not seiner Tochter. Sie hingegen spürt den Zwiespalt, als sie den verfluchten Ring – zugleich Siegfrieds Liebespfand – zur Rettung der Götter und der alten Welt nicht hergeben will. Sie stehen sich stumm und hilflos gegenüber. Im Schlussgesang nimmt Brünnhilde ihren Göttervater zu den Worten „Ruhe, ruhe, du Gott“ mit anrührender Anmutung in den Arm. Ihrer beider zurückliegendes Leben zieht in diesem Moment an ihnen stumm und ergreifend vorbei.

Was durch die bildhafte und spielfreudige, und allen Pathos meidende Umsetzung sowohl auf der Szene wie im Orchestergraben angelegt wurde, wirkt nun doppelt gewichtig: Brünnhilde und Wotan sind Menschen, sie geben ihre Rollen als Gott und Walküre im Spiel ab und treten sich in allem tragischen Schmerz in größter Verletzlichkeit gegenüber. Auch die anderen Götter „entkleiden“ sich ihrer Rollen und werden zu anonymen Flüchtenden und Suchenden, wie zuvor unzählige andere Opfer dieser Welt.

Foto © Bernd Uhlig

Nina Stemme meistert die Riesenpartie der Brünnhilde mit bewunderungswürdiger Bravour. Dabei vermag sie darstellerisch trotz der immensen Anforderungen eine immer tiefere Ruhe vor dem Hintergrund ihres erworbenen Wissens und der ihr zuwachsenden Aufgabe zu verkörpern. Auf sie laufen die Handlungsstränge zu, sie allein entscheidet und initiiert Untergang und Neubeginn. All das vereinigt Stemme auf einzigartige Weise auf sich. Clay Hilley setzt seine überzeugende Rolleninterpretation als Siegfried fort. Ihm sind bis zum Schluss keine Ermüdungserscheinungen anzumerken. Keine noch so große stimmliche Herausforderung, geschweige denn intellektuelle Anforderung können ihm etwas anhaben.

Der Hagen von Albert Pesendorfer ist darstellerisch und stimmlich ein höchst souveräner Sohn des Nachtalben Alberich. Auch er agiert mit der Jokermaske. Eine unheimlich anmutende Aura durchsetzt seinen gewaltigen Auftritt. Der Alberich Jordan Shanahan überzeugt wie auch in den vorangegangenen Abenden. Von der Waltraute der Okka von der Damerau kann man lernen, dass diese Partie ganz als demütig liebende Tochter und Schwester verkörpert werden kann, mit innigstem Ausdruck und bewegter Verzweiflung.

Der Gunter von Thomas Lehman sowie die Gutrune von Aile Asszonyi überzeugen als königliches Geschwisterpaar ganz eigenwillig-trotziger Art. Zwei der Nornen, Anna Lapkovskaja und Karis Tucker, stellen auch die Rheintöchter dar, die unvermittelt in die Erscheinung der Nornen wechseln. Aile Asszonyi und Meechot Marrero überzeugen als weitere Ensemblemitglieder.

Der über weite Strecken aktiven Statisterie der Deutschen Oper Berlin gebührt ein besonderes Lob für die vielfältigen Darstellungselemente als Flüchtende und Suchende. Der Chor und Extrachor der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Jeremy Bines bringt insbesondere im zweiten Akt ein prachtvolles Hörgemälde zur Geltung und bringt sich auch darstellerisch als wetterwendisches Gefolge ein.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter seinem Chefdirigenten Donald Runnicles ist der Szene ein ebenbürtiger Partner. So wie auf der Bühne pathetische Elemente vermieden werden, so glänzt das Orchester mit kammermusikalisch-filigranen Ausführungen, wo immer das im organischen Miteinander mit der Szene möglich ist, nicht ohne die dramatischen Aufschwünge der Partitur mit Bravour zu Gehör zu bringen.

Jubel und standing ovations erreichen ihren Höhepunkt, als sich neben Solisten und Chor das gesamte Orchester mit seinem Chef zum Ende dieses Rings auf der Bühne einfindet.

Ein gelungener, bezwingender Abschluss. Man darf gespannt sein, wie sich das komplexe Gesamtkunstwerk auf der Bühne als Werkstatt in den kommenden Jahren weiter entwickelt. Der Zuschauer ist herausgefordert zu erleben, in welche unvorhersehbare Achsendrehung diese, ihn betreffende Welt sich neigen wird. Wird er seine (Ver-)Kleidung auch ablegen müssen? Wie verletzlich wird er dann sein? Es geht nicht um die Götter, sondern um die Menschen und unsere eigene Welt.

Achim Dombrowski