O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bildschirmfoto

Aktuelle Aufführungen

Inszenierter Beethoven

FORCE AND FREEDOM
(Ludwig van Beethoven)

Gesehen am
21. Dezember 2020
(Video on Demand)

 

Radialsystem, Berlin

Seit Jahren geistert der Sehnsuchtsbegriff durch die Konzertszene. Inszenierte Konzerte. Da schwingt der Wunsch mit, Konzerte vor allem bekannter Komponisten mal so ganz anders aufzuführen, meist verbunden mit der Erwartung, völlig neue Zielgruppen anzusprechen. Die Hürden sind hoch. Bei den konventionellen Veranstaltern wie den Konzerthäusern beschränkt sich die Inszenierung meist auf den ordnungsgemäßen Auftritt des Orchesters, die abgemessenen Schritte des Dirigenten zum Pult und die wippenden Bewegungen der Sängerin. Der höchste aller Gipfel scheint da schon das Gesprächskonzert, bei dem der Dirigent das Wort an das Publikum richtet. Und in der Tat ist es schwierig, das richtige Maß zu finden. Wie viel Ablenkung darf sein, ohne den genialen Klang des Komponisten zu gefährden? Darf man womöglich gar in das gewohnte Klangbild eingreifen?

Nico and the Navigators wurden 1998 von Nicola Hümpel und ihrem Lebensgefährten Oliver Proske am Bauhaus Dessau gegründet und lebt seither mit „Respektlosigkeit“ gegenüber den großen Namen wie Händel, Bach, Purcell und Rossini auf der Erfolgsspur. Auch dieses Ensemble, das das inszenierte Konzert als Musiktheater auf die Bühne bringt, entging der Krise dieses Jahres nicht, konnte aber den ganz tiefen Sturz abfedern. Und so erscheint dieser Tage ein Musikfilm bei Arte, der ursprünglich mal als Bühnenproduktion geplant war und nun eine Art Vorschau für eine überarbeitete Fernsehfassung Anfang kommenden Jahres darstellt.

Foto © Falk Wenzel

Force and Freedom ist der anderthalbstündige Beitrag des Musiktheater-Ensembles zum Beethoven-Jubiläum und will laut Hümpel „Beethovens Spätwerk einem neuen Publikum zugänglich“ machen. Dazu soll die Musik aus dem „traditionellen Konzert-Kontext befreit“ und in eine „neue Formensprache“ übersetzt werden. Um die letzten beiden Punkte umzusetzen, nimmt Hümpel das Scheitern des ersten in Kauf.

Die Bühne im Berliner Radialsystem ist geräumt. Im Hintergrund sind verschiebbare Projektionsflächen aufgebaut, davor liegt ein Möbel in Form eines Halbmondes. Später wird ein Stuhl die Requisite komplettieren. Für die Gestaltung ist Proske verantwortlich. Die – auch thematisch – wechselnden Projektionen haben Hendrik Fritze und Sophie Krause angefertigt. Für die Kostüme haben Hümpel und Anna Lechner besorgt. Alle Akteure tragen schwarz, die Tänzerin bekommt zwischenzeitlich einen hellen Überwurf, der verschiedene Funktionen zugewiesen bekommt. Der farbenfroheste Gegenstand wird später ein Rubik-Würfel sein, der für ein hübsches Zwischenspiel sorgen wird. Andreas Fuchs setzt die rechten Lichteffekte und ergänzt damit wunderbare und abwechslungsreiche Bilder, die Markus Genge und Lucas Schmidt für den Film finden.

Dass beim Zuschauer am Bildschirm ein wohlausgeglichener Ton ankommt, stellt Tilo Feinermann sicher. Damit rundet er die künstlerische Gesamtleistung bestens ab. Im Mittelpunkt dieser Leistungen steht Tänzerin und Choreografin Yui Kawaguchi. Ihr kommt die Hauptaufgabe zu, die klassische Musik Beethovens in Relation zur Gegenwart zu setzen. Das gelingt ihr vorzüglich, mal mit ausgreifenden Schritten in den Raum, mal verschmitzt, mal mit feinziselierter Handarbeit. Ihr zur Seite stehen Sprecher Patric Schott, der wenn er nicht in die Handlung integriert ist, mit Zitaten – von wem auch immer – glänzt. Schwer trägt er an seinen Worten, aber das steht ihm gut. Auch Tenor Ted Schmitz, der gleichermaßen zum Ende hin stärker in die Handlung einbezogen wird, trägt routiniert, wenn auch nicht immer textverständlich die Lieder Der Kuss, Resignation und Neue Liebe, neues Leben vor.

Bildschirmfoto

Arte concert macht sich nicht die Mühe, Filme neben einer allgemeinen Einführung näher zu erläutern oder den Zuschauern weitere Hilfen zum Verständnis eines Films an die Hand zu geben. Das ist beim Fernsehen so. Ist ja schließlich keine Bildungsanstalt, oder? Allerdings kommen auch Nico and the Navigators nicht auf die Idee, den Zuschauern weitere Orientierungshilfen zu gewähren. Und damit läuft der konzeptionelle Ansatz, die Musik Beethovens einem neuen Publikum zugänglich zu machen, ziemlich ins Leere. Gewiss, die Musik ist zu hören, davon wird gleich zu reden sein, aber welche Musik der Zuschauer hört, bleibt ihm verborgen. Hätten ein paar Untertitel wirklich den Kunstgenuss zerstört oder die künstlerische Leistung geschmälert? Wäre es so schlimm gewesen, dem Zuschauer mitzuteilen, wann er das Streichquartett F-Dur op. 135 oder den jeweils dritten Satz aus den Streichquartetten C-Dur op. 59 und a-Moll op. 132 hört? Hätte ein kurzer Hinweis beim Dankgesang oder der Großen Fuge in B-Dur op. 133 dafür gesorgt, dass Menschen empört abschalten, weil man sie mit Wissen überfrachten will? Nicht zuletzt: Funktioniert das Tanzstück, das Tobias Weber auf seiner E-Gitarre beisteuert, nur deshalb, weil man nicht mehr darüber erfährt? Das Gegenteil ist wahrscheinlicher.

Zumal die musikalische Qualität gewährleistet ist. Denn mit Nico and the Navigators tritt das Kuss-Quartett auf, das ebenfalls in die Handlung einbezogen wird. An den Geigen Jana Kuss und Oliver Wille, William Coleman mit der Bratsche und Mikayel Hakhnazaryan am Cello interpretieren spielerisch leicht und mit tiefer Kenntnis, gerne auch mal selbst tänzerisch, die alte Musik, die großenteils im Vordergrund steht. Aber eben nicht immer. Und damit stellt sich erneut die Frage nach den Grenzen des inszenierten Konzerts, das aus dem Konzert-Kontext „befreit“ wird. Ist es für den Beethoven-Liebhaber zumutbar, die Musik in den Hintergrund treten oder übersprechen zu lassen? Vielleicht muss man es bei dem Zitat belassen, das im Stück auftaucht: „Wir irren allesamt, nur jeder irret anders.“ Es ist übrigens die letzte Zeile, die Ludwig van Beethoven komponiert.

Michael S. Zerban