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Das muss der Traum eines jeden Musikwissenschaftlers sein: In der ruhigen Atmosphäre der Bibliothek eines Musikkonservatoriums in verstaubten Büchern zu wühlen, auf Partituren von Gaetano Donizetti zu stoßen und festzustellen, dass es sich nicht um eine weitere Version von seiner Oper Lucrezia Borgia handelt, von denen es mehrere gibt, sondern um ein eigenständiges Werk. Von der Handlung her ähnlich und mit Musikpassagen, die stark an Lucrezia Borgia erinnern, aber dennoch eigenständig. Donizetti war ein sehr produktiver Komponist – er schrieb etwa 70 Werke – aber auch einer, der sich nicht scheute, sich selbst zu kopieren. So passierte es mit Dalinda Mitte der 1830-er Jahre in Neapel.
Insbesondere, wie in diesem Fall, musste das neue Werk Dalinda, basierend auf einem Libretto von Felice Romani, aufgrund der Zensurbestimmungen in Neapel zur Zeit der Komposition im Jahr 1838 überarbeitet werden. Der Zensor, ein aufrechter neapolitanischer Bürger namens Francesco Ruffa, hatte entschieden, dass Giftmorde nicht politically correct seien, und die Aufführung verboten. Donizetti legte die Partitur beiseite. Kurz darauf zog er nach Paris, wo man ihm mehr kreative Freiheit gewährte und er bessere Honorare erhielt. Dalinda muss in den Wirren des Umzugs verloren gegangen und in den Archiven gelandet sein, wobei einige der Einzelteile in den darauffolgenden Jahrzehnten sogar stückweise verkauft wurden. Das Werk wurde nie aufgeführt.
Bis jetzt. Die Berliner Operngruppe führt eine halbszenische Fassung im Konzerthaus in Berlin auf. Eine Weltpremiere also, nach 185 Jahren. Die einmalige Aufführung kam dank der akribischen Recherchen und der detektivischen Arbeit der Musikwissenschaftlerin Eleonora Di Cintio zustande, die die Partitur wieder zusammengesetzt hat. Als sie, zusammen mit dem Donizetti-Spezialisten Roger Parker, bereits 2019 an den diversen Versionen von Lucrezia Borgia arbeitete, entdeckte und identifizierte sie die diversen Teile als eigenständige Oper. Nun galt es, alles zusammen zu tragen – eine Arie wurde in den Archiven von Bergamo gefunden, eine andere in Paris, ein Teil in Neapel – und bearbeitete sie kritisch. Dank der jetzigen Veröffentlichung bei Casa Ricordi ist das Stück, das zur Uraufführung nach Berlin gelangt, jetzt dem Opernpublikum zugänglich. Pläne gibt es auch schon, die Oper in den nächsten Jahren als Koproduktion szenisch zu produzieren – in Bulgarien und anderorts.
Das Dreiecksdrama, das in Persien spielt, thematisiert religiöse und soziale Intoleranzen zwischen Muslimen und Christen zur Zeit der mittelalterlichen Kreuzzüge. Die Zensur stufte das Libretto nicht zuletzt wegen der Parallelen zu Lucrezia Borgia als sittenwidrig ein und lehnte es wegen seines „theatralischen Terrors“ ab. Sie nahm Anstoß daran, dass die fränkischen Ritter zu einem Friedensfest eingeladen werden, nur um beim Festmahl mit vergiftetem Wein getötet zu werden.
Die Handlung ist kompliziert: Zur Zeit der Kreuzzüge ist Dalinda, die Tochter des Anführers der militanten Ismailiten, mit Acmet, dem persischen Prinzen von Alamut, verheiratet. Sie hat jedoch einen unehelichen Sohn aus einer vorehelichen Liaison mit einem christlichen Ritter aus Franken. Der aus dieser Liebesbeziehung stammende Sohn Ildemaro wurde heimlich weggegeben, um in einem Fischerdorf aufzuwachsen, und christlich erzogen. Nun sucht er nach seiner leiblichen Mutter. Er trifft in den Gärten von Emessa ein, um an den Friedensfeierlichkeiten nach drei Jahren Krieg zwischen Franken und Sarazenen teilzunehmen. Er hat den Hinweis erhalten, dass seine Mutter bei diesem Fest sein könnte. Dalinda erkennt ihren Sohn, als sie ihn schlafend findet, gibt sich ihm gegenüber aber nicht zu erkennen. Acmet begegnet den beiden und ist eifersüchtig, weil er Ildemaro für Dalindas Geliebten hält, aber er lässt sich nichts anmerken. Als Ildemaro erwacht, fühlt er sich stark zu Dalinda hingezogen und ist verwirrt von diesen Gefühlen. In der Zwischenzeit unterhält sich eine Gruppe fränkischer Ritter über die von Dalinda bereits erteilten Befehle, Mitglieder ihrer Familien zu ermorden. Als die Ritter Dalinda den Schleier abreißen, um sie für die Ermordung ihrer Verwandten anzuprangern, sinnt Acmet auf Rache an den christlichen Rittern. Alle sollen durch Gift sterben, auch und gerade Ildemaro, den er immer noch für den Geliebten seiner Frau hält. Am Ende gibt sich Dalinda als Mutter von Ildemaro zu erkennen. Zu spät: Ildemaro stirbt, während Dalinda ihm die Wahrheit gesteht. Gleichzeit ist ihr Geständnis ihre eigene Verurteilung, und sie wird von der Gesellschaft gesteinigt.
Angekündigt als halbszenische Aufführung, zeichnet Giulia Randazzo für das szenische Arrangement verantwortlich. Sie hat den Ort des Geschehens in den heutigen Iran verlegt. Zugegeben, Randazzo hat wenig Platz auf der Bühne, vor den Musikern, aber die wenigen, banalen Bewegungen, die sie die Sänger ausführen lässt, tragen weder zum Verständnis noch zum Genuss des Stückes bei. Stühle zu verschieben, sie umzudrehen, um Altartische zu schaffen, auf denen Kelche mit vergifteten Getränken herumgereicht werden, machen noch keine Inszenierung aus. Auch eine quasi politische Aussage, wenn Dalinda sich eine Strähne ihres Haares abscheidet und es hochhält, hinterlässt keinen Eindruck.
Die Berliner Operngruppe, die 2010 von dem Dirigenten Felix Krieger gegründet wurde, kommt einmal im Jahr zusammen, um Opernraritäten aufzuführen. Ungewöhnlich für Deutschland ist, dass diese Gruppe überwiegend privat finanziert wird. In den vergangenen Jahren hat sie Iris von Pietro Mascagni, Betly und Zwei Männer und eine Frau, beide von Gaetano Donizetti, aufgeführt. Das Orchester rekrutiert sich aus professionellen, freischaffenden Musikern, von denen viele direkt von den Musikhochschulen kommen. Mit ihrem Enthusiasmus und ihrem temperamentvollen Spiel – darunter eine hervorragende Bläsergruppe – sind sie unter der exaltierten Leitung von Felix Krieger einer der Erfolgsgaranten des Abends.
Dass Dalinda ein Erfolg wird, ist der hervorragenden Besetzung der drei Hauptrollen zu verdanken: Die dramatische Koloratursopranistin Lidia Fridman in der Titelrolle ist eine verzweifelte Mutter, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu dem Sohn, den sie nie kennengelernt hat, und ihrer Treue zum eigenen Volk. Fridman überzeugt mit einer guten Gesangstechnik, die ihr erlaubt, die Spitzentöne schön zu ornamentieren einerseits und einem unverwechselbaren Timbre mit dunklem Kern Ausdruck zu geben andererseits.
Die Rolle ihres Sohnes Ildemaro wird von Tenor Luciano Ganci übernommen. Er vermittelt den Eindruck, selbstbewusst und kraftvoll zu sein, und füllt die Persönlichkeit der Figur mit sicheren heldischen Höhen aus. Als sein Antagonist Acmet ist Bassbariton Paolo Bordogna ein würdiger Gegenspieler. Seine Stimme ist wie eine stählerne Faust im Samthandschuh.
Ildemaros bester Freund, Ugo d’Asti, wird von der Mezzosopranistin Yajie Zhang mit schlichter Eleganz interpretiert. Die Rollen der fränkischen und sarazenischen Ritter waren mit David Ostrek als Corboga, Andrés Moreno García als Elmelik, Kangyoon Shine Lee als Garniero, Fermin Basterra als Guglielmo, Egor Sergeev als Ridolfo und Kento Uchiyama als Ubaldo besetzt. Sie alle könnten einen stärkeren Ausdruck und vor allem eine bessere Diktion haben.
Der Chor der Berliner Operngruppe unter der Leitung Steffen Schuberts ist auf der Empore hinter dem Orchester platziert. Durch die erhöhte Position kann der Klang sehr gut in den fast ausverkauften Saal des Konzerthauses mit seinen 1700 Plätzen projiziert werden.
Das Publikum feiert die Hauptdarsteller, Dirigenten, Chor und Orchester wärmstens. Da die Aufführung aufgezeichnet wird, kann man sich auf die demnächst erscheinende CD freuen.
Zenaida des Aubris