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CHRISTIAN THIELEMANN DIRIGIERT HINDEMITH, STRAUSS UND BUSONI
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
27. Februar 2021
(Premiere/Livestream)

 

Berliner Philharmonie

Es ist Samstagabend, 19 Uhr. Zum letzten Mal treten die Berliner Philharmoniker an, um ihr Festival Die Goldenen Zwanziger zu zelebrieren. Und wenn es etwas Besonderes wie den Abschluss eines Festivals zu feiern gibt, darf man sich auch schon mal mit „großen“ Namen schmücken. Und das in doppelter Hinsicht. Da stehen zum einen berühmte Komponisten auf dem Programm, und zum anderen hat man es sich nicht nehmen lassen, Christian Thielemann und Camilla Nylund einzuladen. Nylund ist gelungen, was Diana Damrau, die ursprünglich eingeladen war, nicht geschafft hat: Nämlich unter Lockdown-Bedingungen nach Berlin zu kommen. Bis zu ihrem Auftritt müssen die Zuschauer des Livestreams sich noch etwas gedulden.

Wilhelm Furtwängler schätzte seine Arbeit sehr: Die Ouvertüre in der Konzertfassung aus Paul Hindemiths Oper Neues vom Tage bildet den Auftakt des Abends. Acht Jahre vor der Uraufführung dieser Oper, also 1921, wurde der Tanz-Walzer für Orchester von Ferruccio Busoni das erste Mal aufgeführt. Busoni war Lehrer von Kurt Weill, und damit dürfte sich auch dieser Kreis schließen. Mit dem Walzer Künstlerleben von Johannes Strauss Sohn aus dem Jahr 1867 endet dann auch der beschwingte Teil des Abends, wenngleich sich der Zusammenhang mit dem Festival nicht zwingend erschließen mag.

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Im Huldigungsgespräch zwischen Oliver Hilmes und Christian Thielemann während der Pause erzählt der Dirigent, dass er das Programm bewusst diminuierend gestaltet habe. Da passen die spätromantischen Orchesterlieder eines Richard Strauss glänzend, die sich anschließen. Es ist ein Fest. Und schließlich hat Strauss die Lieder erst in den 1920-er Jahren für Orchester geschrieben. Passt also auch. In Folge gibt es das Ständchen, Freundliche Vision, Wiegenlied, Allerseelen und selbstverständlich die Zueignung, ehe es nach Morgen in die Pause geht. Nylund liefert ebenso wie die Philharmoniker eine glänzende Interpretation ab. Was nicht anders zu erwarten war. Nylund gilt als Strauss-Expertin. Hier muss im Grunde niemand mehr dirigieren. Aber Thielemann zeigt sich mehr als engagiert.

Zum Ende des Konzerts hat er ein Stück mitgebracht, das bislang kaum aufgeführt wurde. Mit Die Tageszeiten hat Strauss einen Liederzyklus für Männerchor und Orchester auf der Grundlage von Gedichten Joseph von Eichendorffs geschaffen, den der Rundfunkchor Berlin von den Rängen herunter singt. Thielemanns Begeisterung für das Werk ist überschäumend. Aber so ganz möchte man diesen Enthusiasmus nicht teilen. Eichendorff beschreibt in den Tageszeiten in vier Sätzen den Ablauf eines Tages in romantischer Verbrämung. Und ist irgendwie ganz weit weg vom rasenden Puls der Zeit in den Goldenen Zwanzigern. Da hilft auch der langsam versiegende Gesang nicht weiter.

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Ja, auch so kann man ein Festival zum Ende bringen. Hochkarätig und langsam versiegend. Der fünfte Abend ist damit vorüber. Zeit, über ein Festival nachzudenken, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die Goldenen Zwanziger – in Berlin – mit einem Schwerpunkt bei den Werken Kurt Weills abzubilden. Mit den Mitteln der Digital Concert Hall, die die Berliner Philharmoniker zu einer Zeit eingeführt haben, als sie noch dafür belächelt wurden, haben sie ein Beispiel für das Machbare abgeliefert, was Tontechnik und Kameraführung angeht. Da darf man die Stereoanlage aufdrehen und das Bild auf den Großfernseher holen, ohne irgendwelche Einbußen befürchten zu müssen. Das ist offenbar möglich, wenn ein Jahresbudget von 60 Millionen Euro zur Verfügung steht und zusätzlich Einnahmen über Eintrittsgelder erhoben werden. Mit solchen Mitteln kann man die Besten der Besten bezahlen, und das war an den vergangenen fünf Abenden auch zu hören. Musikalisch war das Festival ein Genuss. Defizite gab es sicher im dramaturgisch-programmatischen Bereich.

Da gab es so einiges, was noch durchdacht gehört. Erstaunlich bei solchen Summen. Aber zugestanden bei einem ersten Versuch. So bleibt die Hoffnung, dass das Festival eine Wiederauflage erfährt, denn es gibt sicher mehr über die Roaring Twenties zu erzählen, als in diesem Festival zu erfahren war. Rückmeldungen der Zuschauer waren ebenso wenig möglich, wie etwas über die Zahl der Zuschauer zu erfahren. Immerhin aber haben die Berliner Philharmoniker hier eine solche Perfektion erreicht, dass die Frage nach dem Live-Auftritt keine große Rolle mehr spielt. Ist er also nach einer entsprechenden Weiterentwicklung doch möglich, der reine Online-Auftritt? Werden wir uns daran gewöhnen müssen oder können? Fragen, die wir heute noch nicht abschließend beantworten können. Vielleicht bringt uns die Neuauflage dieses Festivals da schon eine ganze Ecke weiter. Freuen wir uns darauf.

Michael S. Zerban