Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
BOVARY
(Christian Spuck)
Besuch am
8. September 2024
(Premiere am 20. Oktober 2023)
Bovary, nachdem seit der Premiere zur Saison-Eröffnung 2023/24 ein Jahr vergangen ist, wirkt in der Inszenierung von Christian Spuck im September dieses Jahres nachhaltig sehr überzeugend. Spuck ist als Intendant des Staatsballetts Berlin mit Bovary am Ballett-Hot-Spot der Hauptstadt angekommen. Vielen, die ihn vor diesem Moloch gewarnt hatten, konnte er in seinem ersten Jahr zeigen, dass seine choreografische Arbeitsweise so kreativ und widerständig ist, wie sich seine Intendanz wider allen Stürmen manifest zeigt. Die Ehrung durch die Zeitschrift Tanz als „Kompanie des Jahres“ spricht für sich.
Der Choreografie und Inszenierung des Tanzstücks Bovary nach dem Roman Madame Bovary von Gustave Flaubert ist die in zehn Jahren in Zürich entwickelte und verfeinerte Handschrift Spucks eingeschrieben. Von Messa da Requiem – große Musik, große Stille vom Januar 2017 in Zürich bis Mysterien des Todes vom 8. Mai vergangenen Jahres in Berlin – bis heute wird sie mit Bovary fortgeschrieben.
Foto © Serghei Gherciu
Spuck kreiert mit dem Tanzstück ein Erzählballett, das Flauberts Roman nicht literarisch reflektiert nacherzählt, und dass das, wie er bemerkt, mit den Mitteln des Tanzes auch gar nicht möglich sei. Er reduziert und fokussiert auf die Figur der Emma Bovary. Ein Schicksal voller Facetten, das Spucks Inszenierung wie ein Palimpsest überzeichnet. So mittelmäßig die Welt, wie sie für die meisten Menschen Realität ist, so regen sich immer auch, mitunter unbewusst Wünsche und Gefühle von unbedingtem Leben und Lieben. Die Sehnsucht, geliebt zu werden, an der ihr innewohnenden Lust teilzuhaben, führt Emma Bovary in eine Sackgasse. Traumwelten, gebaut aus billigen, romantisch verzehrenden Liebesromanen, die bis heute, noch befeuert durch Online-Dating-Foren sowie weiteren Spielformen in den sozialen Medien, aktueller denn je zu sein scheinen. Illusionswelten, aus denen es irgendwann keinen Ausweg mehr gibt.
Weronika Frodyma, die für ihre Darstellung der Madame Bovary zur „Tänzerin des Jahres 2024“ ausgezeichnet ist, überzeugt mit poetisch gestimmter Präzision. Jede noch so klein nuancierte Geste ist von einer umfassenden Überzeugungskraft getragen. Spucks Choreografie übersetzt sie bis in die Zehenspitzen kraftvoll und elegant, ebenso nonchalant wie in somnambuler Anmutung. Wie Flaubert von einer außen betrachtenden Position erzählt und doch gleichzeitig der Person ganz nahe ist, so kongenial tanzt Frodyma ihre Bovary. Emma ist das Zentrum der Inszenierung. In ihr spiegeln sich hintergründig Emotionen und seelische Nöte.
Spucks Bovary-Choreografie wechselt die Erzählebenen wie in einem musikalischen Kaleidoskop. Werke von Toru Takemitsu und György Ligeti sowie Charles Ives arrondieren tänzerisch abstrakte Erzählebenen im düster morbiden, verwelkenden Bühnenbild von Rufus Didwizus. Sie kreieren variabel tönende Klangräume. In den Szenen choreografierter Gruppenbilder der Compagnie sind Sequenzen aus dem Klavierkonzert Nr 3 E-Dur von Camille Saint-Saëns zu hören, die Alina Pronina intoniert.
Zeitweise werden auf die hintere, mobil sich öffnende und schließende Bühnenwand Filmsequenzen vom ländlichen Leben mit Ackern, Melken und Schlachten vom Beginn des 20. Jahrhunderts als Video von Tienie Burkhalter projiziert. Bei einer Bauernhochzeit ist zu sehen, wie der Schuh der Braut im Unrat des Hofes stecken bleibt. Marina Frenks liest aus dem Off ausgewählte Textpassagen aus Flauberts Roman. Mit ihnen erhält die Erzählung auch für jene, die den Roman nicht gelesen haben, einen metaphorisch komprimierten Subtext.
Solche metaphorischen, wie nebenbei eingeblendeten Signaturen charakterisieren die Ballett-Szenenfolgen von Prolog sowie erstem – Die Hochzeit, Der Ball auf Schloss Vaubyessard, Eine schüchterne Liebe, Die Landwirtschaftsausstellung in Yonville – und zweitem Akt – Der Rausch von Rouen, Die Rückkehr von Yonville, Das Gift. Der Tod. Diese Dramaturgie assoziiert unwillkürlich einen Marcel-Proust-Kosmos. Emmas andere, naive Suche nach der verlorenen Zeit, von der sie wenig mehr als eine Ahnung hat.
Foto © Serghei Gherciu
Die fokussierten Nahaufnahmen, gleichsam Ausleuchtungen des Innenlebens von Emma, breiten mit den enigmatischen Tintinnabuli-Kompositionen von Arvo Pärt der Solo-Ballerina Frodyma einen Klangteppich aus. Ihre Tanzkunst tastet mit sensibilisierter Unmittelbarkeit die enttäuschten Hoffnungen Emmas Schritt für Schritt bis in das finale Desaster ab.
Im Pas de deux mit den Frauenhelden Leon, dargestellt von Cohen Aitchison-Dugas, und Rodolphe, getanzt von David Soares – von Emma als Liebhaber verkannt – sowie im Finale mit Alexei Orlenco als Charles Bovary steigert sich die Choreografie in einen erotisch tödlichen Höhenrausch. Ein dadaistisch konnotiertes Totentanz-Quintett – Matthew Knight, Dominik White Slavkovský, Ross Martinson, Wolf Hoeyberghs, Dominic Whitbrook und Erick Swolkin – das an den Horrorfilm Das Cabinet des Dr. Caligari aus den 1920-er Jahren erinnert, bedrängt Emma mit gemeiner Niedertracht. Eine choreografierte Maskerade, die als eines der starken Bilder des Tanzstücks in Erinnerung bleibt.
Emmas Todestaumel, begleitet von Auszügen aus L’Oiseau innumérable, concerto pour piano von Thierry Pécou und einer Passacaglia von Pärt, steigert sich zu einem Memento mori. Bestäubt mit weißem Gift, windet sie sich, eingesperrt in ihren Körper, als umschlänge der griechische Todesgott Thanatos sie. Die szenische Architektur – Emma sitzt ihr Leben ausatmend auf einem Stuhl – von Charles‘ und Emmas Dienstmädchen Félicité, die Vivian Assal Koohnavard mit stupidem Stoizismus darstellt, mit Schrecken wahrgenommen, erinnert an das grafische Der Tod im Krankenzimmer von Edvard Munch.
Umflirrt von dem schmachtenden Pop-Sound She was von Camille, wird alles wieder auf Anfang gesetzt. „Go Go Go away When she was young She was a cow”. Wie zu Beginn stehen klagende Weiber mit schwarz umflorten Gesichtern, scheinbar dem antiken Theater entstiegen, erneut auf Podesten. Das Warten auf ein gewisses anderes Lebensglück beginnt kreislaufartig wieder von vorn.
Jonathan Stockhammer am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin serviert dem Staatsballett Berlin die unterschiedlichen, untereinander kontrastierenden Kompositionen auf einem klangsilbernen Tablett. Allein der Choreografie verpflichtet und trotzdem, wie schon 2023 gehabt, mehr als nur ein Back-up-Service.
Peter E. Rytz