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Wer jemals nach Frankfurt an der Oder kommt – dicht an der polnischen Grenze – sollte unbedingt die St. Marienkirche besuchen. Nicht nur, weil die ursprünglichen 117 Fenster mit Glasmalerei aus dem 14. Jahrhundert zu sehen sind, sondern auch, weil die Geschichte, die in diesen Fenstern erzählt wird – Comics des Spätmittelalters – die Schöpfung der Welt, das Leben von Adam und Eva, das Leben Christi und die Antichristlegende darstellen, inklusive einer Abbildung, die eben Christus zum Verwechseln ähnlich ist.
Ob Rued Langgaard diese Fenster je gesehen hat, wissen wir nicht. Er ist während seines Lebens – geboren ist er 1893, gestorben 1952 – wenig außerhalb seines Heimatlandes Dänemark gereist. Er war als Organist und Pianist bekannt, seine mehr als 400 Kompositionen fanden wenig Anerkennung zu Lebzeiten und nicht viel mehr nach seinem Tod. Seine einzige Oper, Antikrist, entstand Anfang der 1920-er Jahre – also ziemlich genau vor hundert Jahren – und wurde 1926 bis 1930 überarbeitet aus Gründen des zensierten Librettos, das ebenfalls von ihm stammt. Letztendlich fand die konzertante Uraufführung posthum statt, 1980 durch das Dänische Nationale Symphonieorchester unter Michael Schønwandt und szenisch erst 1999 am Tiroler Landestheater Innsbruck. Die jetzige Produktion ist gerade mal die vierte, überhaupt. Also eine ausgesprochene Rarität in der gegenwärtigen Opernlandschaft. Das das opulente Werk sich mit dem apokalyptischen Streit zwischen Gott und Luzifer gerade nach dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzt, wonach die Weltordnung sich radikal neu formierte, nicht nur in Deutschland und nicht nur die wirtschaftliche Basis, sondern europaweit und besonders auf gesellschaftlicher und soziokultureller Ebene, ist bestimmt kein Zufall. Langgaard wird vom Musikwissenschaftler Bo Wallner als „ekstatischer Außenseiter“ bezeichnet, der in der Spätromantik und frühen Avantgarde angesiedelt ist. Unüberhörbar sind die Einflüsse von Wagner und Schönberg.
Das Libretto umfasst gerade mal zwei Seiten, bestehend aus einem Prolog und sechs Szenen, die ohne Pause gespielt werden. Eine Handlung im konventionellen Sinne gibt es nicht: Im Prolog schickt Luzifer den Antichristen in eine hedonistische Gesellschaft, um sein Unwesen zu treiben. Gott lässt es zu. Im letzten Bild geht der Antichrist doch unter und Gott – oder das Gute – siegt. In den dazwischen liegenden Szenen wird die dekadente Gesellschaft gezeigt, die den Wörtern des Mundes folgen, der einen Lebensstil erläutert, gekennzeichnet von Oberflächlichkeit, Materialismus und Egozentrik. Der Missmut verbreitet Pessimismus und Bitterkeit. Die Große Hure meint, der Mensch soll sich nur noch seinen Trieben hingeben. Dazu kommt die Lüge, die auch ihren Machtanspruch geltend machen will. Aus diesem apokalyptischen Szenario wächst der Hass und es herrscht Anarchie. Das Jüngste Gericht steht bevor, und Luzifer meint, gewonnen zu haben. Da steigt Gott doch ein, vernichtet den Antichristen und erlöst die Menschheit, die jetzt den himmlischen Frieden preist.
Ersan Mondtag ist Regisseur und Ausstatter zugleich. Das Einheitsbild zeigt eine Straße mit bunten Häusern, die sich in einer x-beliebigen Stadt befinden könnte. Links eine mit Neonlichtern bezeichnete Bar, rechts ein ebensolches Zeichen für ein Hotel. Alles spielt sich auf der Straße ab. Hier tritt das zwirbelnde Ballet in der Choreografie von Rob Fordeyn auf, in Kostümen, die an Oskar Schlemmers Triadisches Ballett erinnern, und bringt viel Schwung und Bewegung ins Bild.
Foto © Thomas Aurin
Hier tritt der umfangreiche Chor auf, die Mitglieder in expressionistisch bemalten Nackttrikots – einerseits gendergerecht, anderseits auch androgyn. Alles mit großem, grobem Pinsel aufgetragen. Hier ist nichts subtil. Die oft biblischen Texte werden direkt an der Rampe gesungen, es gibt wenig interagierenden Dialog zwischen den Charakteren. Mondtag ist ein visueller Regisseur, der sich in diesem Werk austobt. Nicht zuletzt mit der Darstellung Gottes als gehängtem Mann mit weiblichem Geschlechtsteil.
Das großartige Sängerensemble agiert unter furchterregenden Masken und Bemalung. Allen voran Fiona Stucki als Große Hure mit großem Sopran und noch größerem Busen und Hüften, die allen Trost spendiert. Luzifer wird von Thomas Lehman mit durchdringendem Tenor verkörpert. Der Schauspieler Jonas Grundner-Culemann lässt Gottes Stimme mit baritonaler Resonanz ertönen. Clemens Bieber musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen und wird von Tenor Thomas Blondelle in der Rolle des Mundes, der große Worte spricht, vertreten. Wie man es von ihm gewohnt ist, mit vollem vokalem und darstellerischem Einsatz. Die weiteren Rollen – die Rätselstimmung von Irene Roberts und das Echo der Rätselstimmung von Valeriia Savinskaia, der Missmut von Gina Perregrino, das Tier in Scharlach von AJ Glueckert, die Lüge von Andrew Dickinson und der Hass von Jordan Shanahan – zeugen vom guten musikalischen Niveau des Hauses.
Dirigent Stephan Zilias und das Orchester der Deutschen Oper zähmen die kreative Kraft der Partitur in großer Besetzung und mit Lust. Gut ein Drittel ist reine Sinfonik. Auch die große Chorbesetzung, von Jeremy Bines einstudiert, verleitet den Zuhörer zu fragen, ist dieses Stück doch eher ein Oratorium?
Dass man am Ende des nur 90 Minuten langen Stückes visuell und musikalisch überwältigt ist, sich eine Reihe von offenen Fragen ergeben und die Lust, das Stück wieder zu sehen, damit man es besser verstehen kann, ist sicher keine schlechte Bilanz.
Zenaida des Aubris