O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Humor mit Schmerzfaktor

EINE KLEINE SEHNSUCHT
(Friedrich Hollaender et al.)

Besuch am
3. Juni 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Sinngewimmel, Bergisch Gladbach

Es ist ein sonniger Tag, der sich dank eines stetigen Windes mit den Temperaturen noch zurückhält, trotzdem wird für die Gäste im Konzertsaal Sinngewimmel in Bergisch Gladbach sehr schnell nachvollziehbar, warum Gastgeberin Naré Karoyan das letzte Konzert vor der Sommerpause ankündigt. Reicht doch die geringe Sonneneinstrahlung im Raum voll und ganz aus, ihn ordentlich aufzuheizen und den Besuchern noch vor Beginn des Konzerts die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Selbstverständlich müssen die Fenster geschlossen sein, um die Nachbarschaft vor „Lärmbelästigung“ zu schützen. Manchmal sind die Deutschen schon ein merkwürdiger Menschenschlag. Aber sie haben ja auch schon so einiges hinter sich gebracht. So, wie in den 1920-er Jahren, als Deutschland noch nicht wusste, dass der Abstand zwischen zwei Weltkriegen gerade mal die Länge eines Teenager-Lebens betrug, aber die meisten Deutschen erkennen mussten, dass Galgenhumor eine große Hilfe war, das Leben zu ertragen.

Die Damen und Herren Daffke, oder kurz die Daffkes, wissen viele Lieder davon zu singen. Daffke: Das Wort stammt aus dem Jiddischen und bedeutet, etwas aus Trotz, nur zum Spaß oder aus Eigensinn zu unternehmen. Den Berlinern gefiel das Wort so gut, dass es Eingang in ihre Mundart fand. Und fünf Freunde wiederum fanden ausreichend Gefallen daran, dass sie 2014 ein Chanson-Ensemble gleichen Namens gründeten. Da ist zum einen Ilan Bendahan Bitton, der zusammen mit Karoyan Klavier studierte und heute der „Pulsgeber“ des Ensembles ist. Friederike Kühl ist nicht nur Sopranistin, sondern auch eine Frau mit Spielfreude und einer unglaublichen Wandlungsfähigkeit ihres Gesichtsausdrucks. Über eine enorme Farbpalette in der Stimme verfügt auch Dennis Kuhfeld, die vom Falsett bis zum Bariton reicht. Daneben ist er für die Arrangements zuständig. Franziska Hiller ist die Altistin im Bunde, die zudem die Kontaktfreudige für die Außenwelt gibt. Und eigentlich gehört auch Markus Paul zum Ensemble – wenn er nicht gerade am Staatstheater Cottbus seinen dortigen Ensemble-Verpflichtungen nachkommt. Also treten die Daffkes in Refrath heute zu viert auf.

Friederike Kühl – Foto © O-Ton

Eine kleine Sehnsucht – Lieder und Chansons aus den 1920-er Jahren heißt das Programm, mit dem die vier Musiker das Publikum in eine Zeit entführen wollen, in der Friedrich Hollaender Schlager nach Schlager komponierte. Und so liegt es nahe, dass Kühl mit Wenn ich mir was wünschen dürfte – Kitschtango eröffnet. Marlene Dietrich sang das sentimentale, aber intelligent verfasste Lied in der Klavierbegleitung von Hollaender und errang damit viele Erfolge. Jetzt bringen Kühl und Bitton eine Fassung mit leichtem Hang zur Dramatik. Nach solcher Eröffnung ist ein wenig Humor angesagt. Und dafür war Mischa Spoliansky immer gut. Unter dem Titel Ich hab‘, ich bin, ich wär‘ singt Kuhfeld den Text von Marcellus Schiffer, der in früheren Zeiten als Liebeslied einer Dame angesagt war und wesentlich flüssiger vorgetragen wurde. In der Interpretation des Sängers werden mehr Unterbrechungen gesetzt, so dass der Humor in den Vordergrund tritt. Und Kuhfeld versteht es bereits jetzt hervorragend, das Geschlecht in Frage zu stellen – übrigens keineswegs eine Erfindung heutiger Ideologen, sondern in den 1920-ern geradezu ein Lebensgefühl. Gleich drei Lieder folgen, die in Musik und Text von Hollaender stammen. Die Kleptomanin singt Kühl, Die zersägte Dame darf Hiller vortragen und Kuhfeld widmet sich dem Titellied des heutigen Abends: Eine kleine Sehnsucht. Während die ersten beiden den ganz eigenen Humor jener Zeit erfassen, lässt der Sänger die Wünsche der Menschen im Tango-Rhythmus erklingen. Das bringen Kuhfeld und Bitton übrigens fast besser hin als Ute Lemper, die es in großer Orchesterfassung aufnahm. Auch Kühl befasst sich mit den Sehnsüchten der Menschen, wenn sie ein Lied vorträgt, das Theo Mackeben zu einem Text von Hans Fritz Beckmann komponierte. So oder so ist das Leben hat auch Hildegard Knef interpretiert. Sie hat das große Orchester hinter sich, aber ganz ehrlich: dann lieber Kühl und Bitton. Bei den beiden ist es doch weniger Schlager, dafür ein wenig mehr Tiefgang.

Hiller wirkt in ihren Moderationen etwas unkonzentriert, was sie in den kommenden gesanglichen Vorträgen leicht ausgleicht. Wie zum Beispiel im nachfolgenden Nannas Lied von Kurt Weill und Bert Brecht. Überhaupt wird es bei den folgenden Chansons etwas sozialkritischer. Egal, ob es um Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hollaender geht, das Kühl überzeugend als theatralische Erzählung darbietet, oder um den Bilbao-Song von Weill und Brecht, den Kuhfeld geradezu eruptiv anlegt, was nun wirklich Geschmackssache ist. Aus dem Musical Lady in the Dark von Kurt Weill trägt Hiller My Ship vor.

Ist der Gesang schon aller Ehren wert, begeistern die Sänger immer wieder mit ihren kleinen Tableaux vivants. Ausgesprochen androgyn gibt sich Kuhfeld abermals mit Spolianskys Baby, wenn du unartig bist. So ganz nebenbei streut Hiller den Welthit Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt ein, zu dem Kühl und Kuhfeld mitsummen. Der stammt übrigens ebenfalls von Hollaender. In den folgenden Liedern geht es wieder um die Beziehungen, wenn Kuhfeld die junge Dame – oder etwa nicht – in ein blaues Himmelsbett einlädt, die Stoßseufzer einer Dame in bewegter Nacht von Klüh einen wundervollen Kurt-Tucholsky-Text zur Hollaender-Musik rezitiert oder Kuhfeld und Hiller das erste Duett mit Totaler Verfremdung anstimmen.

Franziska Hiller, im Hintergrund Dennis Kuhfeld – Foto © O-Ton

Während die Besucher allmählich zu Schweißtüchern greifen, heizt Hiller noch einmal ordentlich mit Spolianskys Ich bin ein Vamp ein, ehe sich das Trio zu einem weiteren Welthit zusammenfindet. Zur Musik von Hans May singen die drei den Text von Ernst Neubach Ein Lied geht um die Welt. Eine wundervolle Darbietung. Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Lied, obwohl das Konzertprogramm abgespult ist. Und wirklich. Die vier bringen es als außerordentlich gelungene Zugabe. Richard Heymann schrieb es 1930 für die Tonfilm-Operette Die drei von der Tankstelle. Der Text stammt von Robert Gilbert. Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Die Interpretation ist hinreißend. Und eigentlich müsste das Nostalgie-freundliche Publikum hier mit einstimmen, weil die Hymne auf die Freundschaft einfach immer noch in den Köpfen der Menschen eingemeißelt ist. Und die Daffkes können sich hier noch so sehr um die eigene Interpretation bemühen. Aber vor aller geistigen Augen treten Willy Fritsch, Oskar Karlweis und Heinz Rühmann mit Lilian Harvey auf. Was für ein Durchatmen noch einmal im Kino, bevor die Nationalsozialisten jedem Spaß endgültig ein Ende setzten. Die Daffkes lassen die Unbeschwertheit einer vergangenen Zeit noch einmal kurz aufleben und riskieren bei der Zugabe gar die Anzeige einer „Lärmbelästigung“, weil Florian Noack das Fenster vorzeitig öffnet. Aber eigentlich sind die Deutschen ganz umgänglich – zumindest, wenn es um Freundschaft geht.

Im Sinngewimmel geht es im September weiter mit ausgefallenen Konzerten. Verraten haben Naré Karoyan und Florian Noack als Programmgestalter noch nichts, aber das Vertrauen ihres Stammpublikums ist längst grenzenlos.

Michael S. Zerban