O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Massenproteste in Minsk © N.N.

Aktuelle Aufführungen

Es geht um Gerechtigkeit

INSULTED. BELARUS(SIA)
(Andrei Kureichik)

Gesehen am
17. März 2021
(Premiere am 25. Februar 2021/Stream)

 

Staatstheater Augsburg

Macht ist eine schreckliche Krankheit. Wer sich einmal damit infiziert hat, kann sich offenbar nur schwer wieder davon befreien. Und manchmal hilft nur eine Radikalkur von außen, um das Machtgefüge günstig zu beeinflussen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Alexander Lukaschenko, Staatspräsident von Weißrussland. Seit 26 Jahren herrscht der „letzte Diktator Europas“ über Menschen, die das schon lange nicht mehr wollen. Am 4. August vergangenen Jahres begannen einmal mehr Scheinwahlen. Gegen Lukaschenko tritt an Swetlana Tichanowskaja als Vertretung ihres Ehemannes, der im Vorfeld als Kandidat verhaftet wurde. Ihr fliegen die Wählerherzen zu. Am 9. August werden die offiziellen Wahlergebnisse bekanntgegeben. 80 Prozent der Stimmen seien für den Machthaber abgegeben worden, lässt der verlauten. Unabhängige Wahlbeobachter, obwohl sie von den Wahllokalen unter fadenscheinigen Gründen ferngehalten werden, kommen zu einem ganz anderen Ergebnis. Danach ist die Amtszeit Lukaschenkos endgültig beendet, und Tichanowskaja hat die Wahl haushoch gewonnen. In der Folge erlebt das Land eine nie gesehene Protestwelle. Hunderttausende Menschen gehen auf die Straße. Und Lukaschenko lässt auf sein Volk schießen. Es kommt zu Massenverhaftungen. Das brutale Vorgehen zeigt die ganze Hilflosigkeit eines alten Mannes, der von der Macht nicht lassen will.

Andrei Kureichik ist in seiner Heimat ein bekannter Drehbuchautor, Dramatiker, Regisseur und Publizist. Bis zum 9. August 2020 arbeitet er für die Unterhaltung. Zehn Tage später wird ihm klar, dass er zu den Geschehnissen in Weißrussland nicht länger schweigen kann. Der Mann aus Minsk versteckt sich in einem kleinen Dorf vor den Häschern Lukaschenkos und beginnt, ein Stück zu schreiben. Zwischendurch setzt er sich in die Ukraine ab, weil der Aufenthalt in Belarus zu gefährlich wird. Das Stück, an dem er arbeitet, schreibt man nicht in einer Diktatur. Denn Kureichik schildert die jüngsten Ereignisse aus Sicht persönlicher betroffener Personen. Das Stück Insulted. Belarus(sia) wird ein sensationeller Erfolg in der Welt. Bis heute ist es in 20 Sprachen übersetzt und in 28 Ländern gezeigt worden. Bis Januar war Deutschland nicht dabei. Als Regisseur Andreas Merz-Raykov das Buch vor einiger Zeit in die Hände bekam, bot er es sofort etlichen Theatern an. Das Staatstheater Augsburg schlug zu. Und präsentierte am 25. Februar die Deutschlandpremiere als Zoom-Konferenz. Merz-Raykov übernahm die Inszenierung des inzwischen von Georg Dox in die deutsche Sprache übertragenen Werks.

Jenny Langner als die Neue – Bildschirmfoto

Dem Regisseur gelingt ein großer Wurf, auch deshalb, weil er über ein überzeugendes Ensemble verfügt. Auch Bühnenschauspielern geht es bei einer Zoom-Konferenz nicht anders als anderen Menschen. Sie sind die Kamera kaum gewöhnt, fühlen sich vor dem kleinen Monitor nicht besonders wohl und müssen erst mal lernen, sich darauf zu konzentrieren, dass da nicht nur ein Computer-Spiel stattfindet, sondern gerade der Beruf ausgeübt wird. Umso höher ist die Leistung zu bewerten, die Charaktere zu interpretieren, die Kureichik für sein Stück ausgewählt hat. Thomas Prazak spielt den Alten, in dem unschwer Lukaschenko zu erkennen ist. Ein beleidigter alter Mann, der immer noch im Glauben verharrt, für „sein“ Volk unentbehrlich zu sein, und nicht versteht, wie man so undankbar wie die Weißrussen sein kann. Der Junge, Lukaschenkos Sohn, ist ebenfalls beleidigt. Florian Gerteis zeigt uns die wahren Probleme eines Diktatorensohnes auf. Die ständige Überwachung durch die Nanny, Computer-Spieleverbot und eine mangelhafte Netzverbindung können einem das Leben echt vermiesen. Die Neue, das ist Swetlana Tichonowskaja, überzeugt in der Schlichtheit ihrer Motive, und Jenny Langner erklärt glaubhaft, warum die junge Frau so gut beim Volk ankommt. Mirjam Birkl bringt kurzfristig frischen Wind in das grausige Spiel, wenn sie die Optimistische mit viel guter Laune gibt. Sie scheint auch Grund dazu zu haben, bereitet sie sich doch auf die Hochzeit ihrer Schwester vor, noch nicht wissend, dass daraus nichts wird. Der Zukünftige der Schwester ist Kai Windhövel, der die Mannschaften Lukaschenkos auf der Straße repräsentiert. Ihm nimmt man die Freuden des einfachen Mannes ab, der mit der Politik nicht viel am Hut hat, aber beim Militär ein gutes Geld verdient, mit dem er sich diese Freuden erfüllen kann. Viel Spaß am einfachen Leben hat auch der Leichnam, der von Patrick Rupar äußerst glaubwürdig vom Hooligan zum Protestler auf der Straße befördert wird. Die Absurdität der Wahlen wird, wie vom Buch verlangt, ein wenig holzschnittartig, fast schon komödiantisch von Andrej Kaminsky als Direktorin eines linientreuen Gymnasiums vorgeführt.

Thomas Prazak als der Alte – Bildschirmfoto

Merz-Raykov verwebt das Geschehen zu einem Kammerschauspiel, bei dem man schon nach wenigen Minuten vergessen hat, dass es sich um eine Zoom-Konferenz handelt. Noch dazu mischt er Bilder von der Massenbewegung in Weißrussland in das letzte Drittel des Stücks, die das Drama auch visuell verstärken. Obwohl die Handlung technikbedingt kaum über ein Mindestmaß hinausgeht, verstehen die Schauspieler es, mit ihren kleinen Gesten das Stück zu beleben. 75 Minuten vergehen hier wie im Fluge, und zurück bleibt ein Zuschauer, der sich von politischem Theater so gefangen zeigt wie wohl schon lange nicht mehr.

Mit dem Unwohlsein aber kommen auch die Fragen. Es ist das altbekannte Problem. Ein Staat ist autonom. Das gilt für Afghanistan, Syrien oder Weißrussland. Wie also soll man sich einmischen – außer mit einer Solidaritätsadresse? Aber schon da ist die Frage, ob sie richtig ist. Natürlich gelten die Sympathien dem Volk, das friedlich auf Plätzen aufmarschiert, Fabriken bestreikt und bis in die kleinen Dörfer hinein seinen Unwillen kundtut. Natürlich ist der Schrecken groß über die brutalen Bilder, die über die Monitore flimmern. Aber darf man sich als Deutscher in die Geschehnisse eines anderen Landes einmischen, noch dazu als Deutscher, der sich gerade selbst hilflos von einem Politikerclub herumschubsen und seiner Grundrechte berauben lässt? Immerhin hat sich die deutsche Regierung den Staaten angeschlossen, die Lukaschenko nicht mehr als rechtmäßigen Herrscher des Landes anerkennen. Aber damit hat es sich auch schon. Sanktionen? Fehlanzeige. Wenigstens eine angemessene Berichterstattung über die aktuellen Geschehnisse in Weißrussland? Nichts. Stattdessen erzählen übereifrige Nachrichtenmoderatoren von Belarus, so wie sie ja sonst auch von France und Italia berichten. Und so bleibt Wut und Unbehagen nach einem tief beeindruckenden Stück, das als großartige schauspielerische Leistung eigentlich viel Applaus verdient hätte. Aber so ist das mit richtig gutem politischem Theater eben.

Michael S. Zerban