Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
Bauer, Dame, König. Die Opéra de Lausanne unter Intendant Eric Vigié wirbt mit Schachfiguren für den Fünfakter Hamlet von Ambroise Thomas. Es ist eine Koproduktion mit der Opéra national du Rhin und der Opéra de Marseille. Wer macht den finalen Zug, wer ist Schachmatt? Die Lesart von Regisseur Vincent Boussard versetzt die Protagonisten in einen geschlossenen Raum wie im Drama Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre. Nur ein schmales, hohes Fenster lässt die Außenwelt mit Palastmauern erkennen. Die anfängliche Trauer um den Tod des Königs weicht schnell großer Aufregung. Wurde der Monarch, der Vater von Hamlet, ermordet? Heiratete seine Witwe einen Mörder? Es beginnt ein fiebriges Kammerspiel, das nichts an Spannung zu wünschen übriglässt und das Ensemble zu gesanglichen wie schauspielerischen Höchstleistungen antreibt.
Der Höhepunkt des Abends ist die Wahnsinnsarie der Ophélie. In der aufs Wesentliche reduzierten Inszenierung, die wie schon zu Shakespeares Zeiten praktisch ohne Requisiten auskommt, wird die Schlüsselszene im vierten Akt mit einer frei stehenden Badewanne veranschaulicht. Die Geliebte Hamlets, die sich aufgrund seines Liebesentzugs im nahe gelegenen See ertränkt, vollbringt diese Tat bei Boussard im weiß emaillierten Trog. Das Bild wirkt zu keiner Sekunde lächerlich, sondern macht befangen. Die junge Sopranistin Lisette Oropesa verleiht dem Moment mit der feingliedrigen Koloraturarie À vos jeux, mes amis eine Intimität, die ihresgleichen sucht, und löst beim Premierenpublikum Begeisterungsstürme aus. Die mehrteilige Melodie erschliesst sich sofort und bewegt tief.
Das Drama Hamlet von William Shakespeare ist keine leichte Kost. Kein Wunder, beauftragte man für Thomas‘ Oper, die 1868 in Paris uraufgeführt wurde, die beiden Librettisten Michel Carré und Jules Barbier. Knapp zehn Jahre zuvor, 1859, lieferte das eingespielte Duo Charles Gounod den Text für seinen Faust. 1866 waren sie mitverantwortlich für den Triumph der Oper Mignon, die ebenfalls aus der Feder von Ambroise Thomas stammt. Der Franzose galt damals als veritabler Dramatiker, Kritiker sprachen ihm ein Faible für Finessen allerdings ab.
Das Gespann Shakespeare, Carré, Barbier und Thomas erwies sich seinerzeit als genialer Schachzug, die Oper war ein großer Erfolg und wurde bis anfangs des 20. Jahrhunderts an vielen Häusern auf der Welt gespielt. Der Mord am König durch dessen Bruder, der Geist des Toten als Auftragskiller und der Sohn als willfähriger Rächer, der im Angesicht des Todes über Sein oder Nichtsein sinniert, sollten nicht nur Weltliteratur bleiben, sondern auch als Musiktheater für Furore sorgen. Das Werk verlor dann allerdings an Schlagkraft und wurde bis zum Millennium kaum mehr gespielt. Peu à peu wird Hamlet wiederentdeckt und ist auch an der Opéra de Lausanne eine Erstaufführung.
Musik | |
Gesang | |
Regie | |
Bühne | |
Publikum | |
Chat-Faktor |
Vincent Boussard vertraut in seinem Turnier der Adligen ganz auf die Stringenz des Stücks und kondensiert die einzelnen Tableaus zu einem feudalen Palastzimmer, in dem sich die Ränkespiele um Macht und Rache entspinnen. Es ist ein Raum, der schon bessere Zeiten erlebt hat. Die Wände machen den Anschein eines zusammengeknüllten Stück Papiers, das entfaltet wurde und sich in einer späteren Szene als verworfene Tagebuchseiten von Ophélie offenbart. Vom Boden her zieht sich allmählich schwarzer Morast empor. Vincent Lemaire setzt bei der Bühne einfache, klare Akzente. Guido Levi sorgt mit einer subtilen Lichttechnik für schauervolle Impressionen. Bevor der Geist des Königs als houserunner vertikal die Wand hinunterschreitet, steht der dort projizierte Palast Kopf, und die Spur des unheimlichen letzten Gangs wird teuflisch rot markiert. Die Personenführung unter Boussard bleibt während der ganzen drei Stunden plausibel und veranlasst nie zum overacting. Das gilt auch für den Chor der Opéra de Lausanne, der unter Jacques Blanc für starke Auftritte sorgt.
Wenn Hamlet seine Mutter Gertrude, die Königin von Dänemark, im dritten Akt der Mittäterschaft bezichtigt, gerät diese Szene nicht nur zu einer Sternstunde des Gesangs, sondern auch zum ausdrucksvollen Schauspiel. Die Kostüme von Katia Duflot geben in ihrer edlen Schlichtheit den Geist der Belle Époque wieder und bilden einen willkommenen Kontrapunkt zur explosiven Spannung. Die Königin leuchtet derweil in kaminrotem Samt, und der Held Hamlet verströmt mit dem schwarzen Ledermantel und den hohen Stiefeln den Esprit des zeitlosen Kämpfers im Stil eines Neo aus den Matrix-Filmen.
Hamlet in Lausanne ist auch ein Fest der großen Stimmen. Kein Part, der stimmlich abfallen oder das feste Gefüge unterminieren würde. Régis Mengus, der attraktive Senkrechtstarter unter den Baritonen, gibt seinen Hamlet mit Impetus und empathischer Leidenschaft. Der virile Sänger, den die Regie gerne mal nackt oder in Lausanne mit offenem Hemd zeigt, kostet die wenigen Pianopassagen in seinem Part mit gekonnter Reduktion aus. Lisette Oropesa lässt ihren jungen Sopran in allen Facetten erklingen und legt vor allem in der Wahnsinnsarie mit scheinbar mühelosem Legato und flirrenden Glissandi ein Scheit nach. Oropesas Koloraturen sind frei und von lyrischer Reinheit, ihr sotto voce ist engelsgleich. Stella Grigorian als Gertrude betört mit einem farbenprächtigen Mezzosopran und erkennbarem Brustton. Ihre kräftige Stimme wirkt in den Höhen manchmal zu schroff und läuft Gefahr zu entgleiten. Tenor Benjamin Bernheim gibt seinem Laërte Glanz und Geschmeidigkeit. Philippe Rouillon als Claudius, Daniel Golossov als Geist, Alexandre Diakoff als Horatio, Nicolas Wildi als Marcello und Marcin Habela als Polonius überzeugen allesamt in sonorer Tiefenlage.
Das Orchestre de Chambre de Lausanne treibt die Partitur unter dem Dirigat von Fabien Gabel rhythmisch voran und interpretiert die satte Dramatik in prächtigen Farben. Gabel versteht es gekonnt, Blech und Holz sowie Instrumentensoli deutlich zu markieren.
Das volle Haus zollt der Gesamtleistung den verdienten Respekt und lässt den Darstellern wie den Musikern langanhaltenden Jubel zukommen. Die Opéra de Lausanne beweist mit dieser selten gespielten und auf den Punkt gebrachten Perle, dass auch verschollene Werke eine Chance haben, wiederentdeckt und ins Repertoire aufgenommen zu werden.
Peter Wäch