O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Carole Parodi

Aktuelle Aufführungen

Am Ende steht die Betäubung

WOZZECK
(Alban Berg)

Besuch am
2. März 2017
(Premiere)

 

Grand Théâtre de Genève,
Opéra des Nations

Eigentlich war die Ansage von Tobias Richter klar, als das Grand Théâtre de Genève sein Ausweichquartier in der Opéra des Nations bezog: „Hier können wir endlich auch mal kleinere Werke in das Repertoire aufnehmen und damit die Zeit im Provisorium sinnvoll überbrücken.“ Aber wie so oft kommt es im Leben anders, als man denkt. Und manchmal hat das auch mit Freundschaften zu tun.

Seine erste Oper inszenierte David McVicar als Schauspielregisseur während der Intendanz von Richter an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Die Oper verschwand irgendwann von der Bühne, der Kontakt blieb. Und so lud David, der inzwischen einen Ring und an der Met inszeniert hat, von der Queen zum Ritter geschlagen wurde, seinen Freund Tobias nach Chicago ein, um die hochgelobte Inszenierung von Wozzeck anzuschauen. Richter trug sich zu der Zeit schon länger mit dem Gedanken, den Wozzeck von Alban Berg zu inszenieren. Also baute er Chicago in seine Reisepläne ein – und war begeistert. Einverstanden, Bühne und Orchester waren eigentlich zu mächtig für die Opéra des Nations, aber ein großer Intendant steht nicht für Verzagtheit, sondern für Visionen.

Also wurde in Genf viel gerechnet und geprüft. Am Ende blieb ein Unbehagen, aber die Überzeugung überwog, dass auch ein zeitgenössisches Werk dieser Ausmaße in der Opéra des Nations machbar sei. Also wird es gemacht.

POINTS OF HONOR

Musik  
Gesang  
Regie  
Bühne  
Publikum  
Chat-Faktor  

Der Mut hat einen Grund. Inzwischen hat Richter nämlich ein ganz anderes, vielleicht noch viel wichtigeres Ziel erreicht, das er für den Standort der Ausweichspielstätte formulierte. Er hat nach eigenen Angaben andere Zielgruppen erreicht. Zwar bleibt das Logenpublikum teilweise weg, aber die jungen Leute kommen. Großartig. Und denen darf man, muss man so genannte zeitgenössische Oper – wir reden hier von einem Werk, das 1925 uraufgeführt wurde – zumuten. Das sehen auch die jungen Leute so und strömen auf die billigen Plätze des Opernhauses. Es ist dem Opernhaus zu wünschen, dass es ihm gelingt, die neuen Publika in die alte Spielstätte mitzunehmen.

Aber so weit ist es noch lange nicht. Jetzt steht erst mal die Inszenierung von McVicar auf dem Programm, die von Daniel Ellis in Genf auf die Bühne gebracht wird. Dabei handelt es sich um eine durchaus konservative, bildgewaltige Aufführung. Vicki Mortimer baut eine Bühne, die sich in drei Abschnitte teilt. Im Zentrum steht das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Davor werden zwei Vorhänge geschoben. Ein Gimmick, das sich in seiner Konsequenz über drei Akte totläuft, aber innerhalb kürzester Zeit immer neue Ebenen schaffen kann. Trotzdem verlängern die Umbaupausen die Länge des Stückes um eine Viertelstunde. Dabei gibt es durchaus theatralisch originelle Einfälle, vor allem in den ersten fünf Szenen, die das beim Publikum hervorrufen, um was es doch im Theater eigentlich geht: Staunen. Alles etwas antiquiert und oxidiert, schließlich ist das Werk nahezu hundert Jahre alt, gibt es von Hand betriebene Erntewagen, in der Klinik eine stark vergrößerte Lupe, überdimensionale Spritzen oder Vermessungsapparaturen, wie sie seinerzeit durchaus üblich gewesen sein könnten. Bei den Kostümen gibt es weniger Überraschungen. Hier greift Mortimer auf die Hausfrauen-Mode und Uniformen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Im wahrsten Sinne ins rechte Licht rückt die ganze Geschichte Paule Constable. Da gibt es immer wieder spannende Aspekte zu entdecken.


Das wünscht man sich auch bei den Sängerdarstellern, die sich allesamt bemühen. Über viele Strecken vergeblich. Da werden sie gnadenlos vom Orchester überspielt. Das meiste bleibt unverständlich und wird vom Publikum nur deshalb akzeptiert, weil Übertitel in Französisch und Englisch eingeblendet werden. Schade um all die hervorragenden Stimmen, die an diesem Abend aufgeboten werden. Bleibt die hervorragende schauspielerische Leistung, die filmische Qualität erreicht. In der Titelrolle glänzt der in Genf debütierende Mark Stone, dem sich im Kopf immer alles schneller dreht, sich die Fragen häufen, ohne in der Umwelt Antworten oder auch nur Verständnis zu finden. Stone spielt das sehr unaufgeregt, legt die Rolle nicht als die des Wahnsinnigen an, wie sie so oft interpretiert wurde. Gerade die Selbstverständlichkeit seiner Persönlichkeitsentwicklung, die schließlich in Mord und eigenem Unfalltod mündet, hinterlässt einen starken Eindruck. Als er in einem Teich ertrinkt, liegt Marie längst mit aufgeschlitzter Kehle am Ufer. Jennifer Larmore zeigt sich den enormen Stimmanforderungen ebenso gewachsen wie Stone, begeistert im Spannungsfeld zwischen den Nöten des Alltags, zunehmender Angst um ihren Wozzeck und dem vergeblichen Versuch, mit dem Verhältnis zu einem Tambour-Major der bedrückenden Situation zu entfliehen. Als eben jener Tambour-Major tritt Charles Workman mit imposanter Figur an, muss aber stimmlich vor dem Graben kapitulieren. Fern jeglicher stimmlicher Probleme entzückt Gaétan Haro als Kind von Marie und Franz mit hochkonzentriertem und punktgenauem Spiel. Tom Fox zeigt einen wunderbar exaltierten Arzt, der im Sprechgesang noch schöner schwäbelt als Stone. Auch die übrigen Rollen sind bis ins Detail adäquat besetzt und vermitteln so eine stimmige und packende Geschichte, die die Entwicklung eines aus der Gesellschaft Gefallenen nachvollziehbar werden lässt. Dazu trägt auch der Chor in der Einstudierung von Alan Woodbrigde in seiner ganzen Spielfreude bei. Ebenfalls überzeugend sind die Teilnehmer des Kinderchors, der unter den Fittichen von Elsa Barthas den Ansprüchen Bergs gerecht wird.

Ohne jede Rücksicht auf die Sänger zeigt Stefan Blunier am Pult des groß auftretenden Orchestre de la Suisse Romande, mit welcher Wucht ein solcher Klangkörper Berg interpretieren kann. Lässt der Dirigent in den ruhigeren Passagen anklingen, dass er das Orchester durchaus zu differenziertem Klang anhalten kann, forciert er mit Lust und großer Geste im Forte, beweist, dass auch die Ausweichspielstätte akustisch machtvollen Ausritten gewachsen ist.

Das Publikum erlebt den Klangrausch mit durchaus gemischten Gefühlen. Wenn sich bei einer solch gelungenen Inszenierung die Musik derart in den Vordergrund schiebt, wirkt das an vielen Stellen eher störend als enthusiasmierend. Dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb nimmt der Abend den Zuschauer gefangen und entlässt ihn wie betäubt. Das Publikum dankt mit großem, aber kurzem Applaus. Die Oper Genf hat bewiesen, dass sie auch solchen Werken gewachsen ist. Davon kann man sich in weiteren sieben Folgevorstellungen selbst überzeugen. Und vielleicht dann doch auch mal eine Inszenierung des Wozzeck von Manfred Gurlitt wünschen.

Michael S. Zerban