O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Agneta Eichenholz und Ben Kleiner - Foto © Monika Rittershaus

Aktuelle Aufführungen

Sex and Crime im 14. Jahrhundert

EDWARD II
(Andrea Lorenzo Scartazzini)

Besuch am
19. Februar 2017
(Uraufführung)

 

Deutsche Oper Berlin

Die letzte Szene gibt den Wikipedia-Beitrag gleich mit, summiert die Geschichte der Oper und gibt dem Zuschauer einen Grund, warum gerade dieser englische König Schriftsteller über die Jahrhunderte fasziniert hat: Ein Tourguide erklärt einer Besuchergruppe, darunter Kinder unter zehn Jahren, die staunend vor einer Madame-Tussaud-ähnlichen Darstellung eines niederknienden Mannes und seinem dahinter stehenden Henker, der eine lange Eisenstange hält: „… am 7. Januar 1327 wurde Edward II abgesetzt und ermordet, vermutlich indem man ein glühende Eisenstange … durch ein abgesägtes Kuhhorn in seinen After stieß … Aufgrund seiner sexuellen Orientierung und der Diskriminierung und Kriminalisierung seiner Person ist er bis heute eine identitätsstiftende Figur der Homosexuellen-Bewegung sowie Inspiration für Historiker und Künstler.“ Sachlich klingt das alles, aber die vorangegangenen 90 Minuten waren es durchaus nicht.

Das Musiktheater in zehn Szenen von Andrea Lorenzo Scartazzini mit dem Libretto von Thomas Jonigk ist ein Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin. Es basiert auf Motiven von Christopher Marlowes Stück von 1593, auf Ralph Holinshed aus dem Jahr 1587 und der Vita Edwardi aus dem 14. Jahrhundert. Die Szenen sind teilweise Alpträume von Edward, teilweise die realen Taten. So beginnt die Oper mit einer Vision Edwards, dass sein Geliebter Piers Gaveston von seinen Feinden übel misshandelt wird, um danach ebenso brutal getötet zu werden. Diese Vision wird dann auch im Laufe der Zeit Wahrheit. Edward erfährt darüber von seinem kleinen Sohn, der mit unschuldiger Kindestimme vom Abschneiden der Hoden und deren Verbrennung erzählt.

Dazwischen gibt es noch die verzweifelte Ehefrau Edwards, Königin Isabella von Frankreich, die von ihrem Gatten gedemütigt wird.  Kein Wunder, dass sie sich an Roger Mortimer wendet und mit ihm Rachepläne schmiedet. Und zu guter Letzt wird der Mob auch noch ordentlich gegen die Sodomiten und Juden aufgestachelt.

POINTS OF HONOR

Musik  
Gesang  
Regie  
Bühne  
Publikum     
Chat-Faktor  

Von Anfang bis Ende ist es ein Stück Musiktheater, das bis an die Grenzen des Erträglichen geht – manchmal sogar darüber hinaus – zumal die Darsteller sehr verständlich artikulieren und vieles im Sprechgesang vorgetragen wird. Scartazzini hat eine musikalische Untermalung dazu geschrieben, die von plastischen Toneffekten über lyrische, erotische Klänge bis hin zu brutalen, fünffachen Schlagzeugattacken reicht. Die Bezeichnung Musiktheater passt genau.

Im grauen Einheitsbühnenbild von Annette Kurz wird eine Ruine auf der Drehbühne angedeutet, die sich als königliches Schloss, Kirche oder Kerker deuten lässt. Die Kostüme von Klaus Bruns wechseln zwischen modischen Designeranzügen, Alltagskleidung bis hin zu historischer Tracht. Regisseur Christoph Loy führt mit strammem Regiment Solisten, Chor und viele Statisten durch einen Dschungel der Gefühle – Hass, Liebe und Rache sind an der Tagesordnung. Und doch sind es zum großen Teil Bilder voller Klischees, die alle gängigen Vorurteile bedienen – Homophobie, Judenhass, Patriotismus oder Korruption in der Kirche, um nur einige zu nennen.

Burkhard Ulrich, Statisterie und Chor – Foto © Monika Rittershaus

Bariton Michael Nagy verkörpert den innerlich zerrissenen Edward II mit einer musikalischen und emotionalen Intensität, die ihresgleichen sucht. Ladislav Elgr als gutaussehender Tenor gibt den Geliebten Piers de Gaveston und steht Nagy in seiner Interpretation in nichts nach. Als einzige Frau ist Agneta Eichenholz eine herbe Isabella, der man ihre Wandlung der pflichtschuldigen Ehefrau zur Rache- und gerechtigkeitssuchenden Königin abnimmt. Als ihr getreuer Geliebter verwirklicht Andrew Harris mit kraftvollen Bass die Rolle Roger Mortimers. Beeindruckend der zwölfjährige Mattis van Hasselt als Prinz Edward, der mit seinem Knabensopran große Bühnenpräsenz zeigt.

Aber Scartazzini und Jonigk wissen auch, dass es einfach nicht möglich ist, nur diese Emotionen walten zu lassen. Zumal diese noch stärker wirken, wenn Ihnen etwas Komik entgegengesetzt wird. Ganz in der klassischen theatralischen Tradition wird dieses komische Element von zwei Figuren, Markus Brück und Gideon Poppe, dargestellt. Sie kommentieren die Geschehnisse mal als Geistliche, mal als sich outendene schwule Soldaten, als Räte, die Penisvergleiche anstellen, als Wächter in Lederkluft, die Maden essen, und letztlich als gelangweilte Tour-Guides, die über das Ableben von Edward erzählen.

Ob als aufgehetzter Mob, Höflinge oder Touristengruppen erfüllt der Chor unter Leitung von Raymond Hughes seine Aufgaben in gewohnt vorzüglicher Weise. Nicht umsonst gilt er als einer der besten Opernchöre Deutschlands.

Thomas Søndergård dirigiert das Orchester der Deutschen Oper Berlin engagiert und führt Instrumentalisten, Chor und Solisten umsichtig durch die komplexe Partitur, die auch elektronische Einspielungen beinhaltet. Übrigens kann man Partitur und Libretto herunterladen.

Das Premierenpublikum feiert die Darsteller, Dirigent und Leitungsteam mit stürmischem Applaus.

Zenaida des Aubris