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Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Andreas Eitler

Aktuelle Aufführungen

Audiovisuelles Musiktheater

AGOTA? DIE ANALPHABETIN
(GESTERN/IRGENDWO)

(Helmut Oehring)

Besuch am
4. Mai 2016
(Uraufführung)

 

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Im Auftrag der Maifestspiele Wiesbaden komponierte Helmuth Oehring Agota? Die Analphabetin (Gestern/Irgendwo) als vokalinstrumentales Melodram. Zur Uraufführung im Kleinen Haus erlebt der Zuschauer 70 Minuten lang Verwirrendes und Beklemmendes zwischen Realität und Fiktion.

Regisseur Ingo Kerkhoff inszeniert so nahe an der Partitur, dass man den Eindruck gewinnt, Oehring habe alles so im Prozess des Komponierens entwickelt. Alles spielt sich auf der Bühne ab. Inmitten der Musiker steht ein weißer Tisch, ein Stuhl, eine Schublade. Die Utensilien darin sind überschaubar. Eine Kerze, eine Metallkiste mit Teebeuteln, eine weitere mit Pulverkaffee, in der Serviette ein Brötchen, eine Kaffeetasse aus Großmutters Sammlung, auf dem Tisch ein weißer Humpen und eine Elektrokochplatte mit einem Topf Wasser. Unaufhörlich steigt Dampf empor und erhellt die Dunkelheit. Mehr benötigt Dagmar Manzel nicht, um Agota darzustellen, abgezehrt, verzweifelt, einsam, verstrickt in ein untrennbares Knäuel aus Erinnerungen und Träumen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Sechs Räume zwischen Prolog und Epilog entwarf Helmuth Oehring, um dem Publikum Einblick in das zu geben, was die ungarisch-schweizerische Schriftstellerin Ágota Kristóf prägte. Erfahrungen aus Flucht und Exil und den Zugang zu einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist. Das sind zentrale Themen, die Oehring, Sohn gehörloser Eltern aus Ost-Berlin, als Wehrdienstverweigerer vom Studium ausgeschlossen, erst nach der Wende Student an der Akademie der Künste, dann aber gleich Meisterschüler bei Georg Katzer, beschäftigen.

Foto © Andreas Eitler

Stefanie Wördemann schrieb zu Agota? das Libretto. Dabei verwendete sie Texte der Schriftstellerin und übersetzte sie ins Deutsche. Philipp Ludwig Stangl drehte mit Manzel Videos, die zur Aufführung in kurzen Sequenzen auf der hinteren Bühnenwand eingespielt werden, um den Eindruck im Augenblick zu verstärken. Übergroß, schützend im Mantel verhüllt, flach auf dem weißen Boden liegend, verdeckt Manzel ihr Gesicht, lebenshungrig verschlingt sie die rote Suppe, pickt wie ein Raubvogel Brocken aus dem Laib Brot. Torsten Ottersberg entwickelte ein Soundregiekonzept, das alle Elemente miteinander verdrahtet und ein vielschichtiges Musiktheatererlebnis ermöglicht.

Manzel stakkatiert den Text im Rhythmus zur Musik, als habe sie Schwierigkeiten, mit der Stimme Worte zu formen, wechselt zur Gestensprache, geht über in Textrezitationen, die, aus dem Zusammenhang gerissen, sich nur im Bewusstsein der sich überlagernden Wechsel aus Realität und Irrealität erschließen, sinniert mit kindlich motivierten Liedchen auf der Lippe an der Grenze zum Wahn über eben Gesagtes. In drei Traum-Hörspielen, die über Lautsprecher erklingen, begegnet sich Agota als Mädchen, als Greisin und als Vogel mit gebrochenen Flügeln. Hinzu kommen autobiographisch dokumentierte Erinnerungen und literarische Erzählungen, die vom Orchester auf der rechten Bühnenhälfte begleitet und weitergetragen, vom Guerilla-Trio auf der linken Bühnenhälfte jedoch kolportiert werden.

Marena Whitcher, Nico van Wersch und Lukas Rutzen machen ihr eigenes Spiel mit Stimme, Gitarre, Schlagzeug, einem multifunktionalen Keyboard. Sie singen mit verfremdeten Klängen, brabbeln, reißen mit den Zähnen an den Saiten, produzieren schmerzverzerrte Geräusche, zerreißen die Partitur und proben die exzessive Zerstörung. Demgegenüber harmlos traditionell agiert das Ensemble Modern. Sie klopfen, flattern, streichen, flüstern und kommunizieren in den tonlosen Passagen über Gebärden-Gesten weiter. Dem musikalischen Leiter Peter Rundel gelingt es, sehr unaufgeregt und unauffällig diese vielfachen Fäden und Verästelungen von Ereignissen auf der Bühne zusammenzuhalten.

Am Ende ist das Publikum von der genialen Performerin Dagmar Manzel begeistert. Ihre Art der Rezitation macht eine szenische Darstellung fast überflüssig. Denn die Bilder, die konkret eingespielt werden, sind längst nicht so stark, wie die Visualisierungen, die Oehring mit seiner multimedialen Klangwelt und mit Manzel als Stimme im Bewusstsein des Hörers freisetzt.

Christiane Franke