Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Christian Zach

Aktuelle Aufführungen

Späte Blumenkinder

HAIR
(Galt MacDermot)

Besuch am
25. Februar 2016
(Premiere)

 

Gärtnerplatztheater München,
Reithalle

Hair besitzt in München eine lange Aufführungstradition. 1968 wurde hier die erste deutsche Aufführung von Haare als Skandalstück samt Nackedei, freier Liebe und berauschten Alternativen gefeiert. Damals brandaktuell im Schatten der Vietnamvergehen, der Wehrpflichtdiskussion und der Flower-Power-Bewegung, scheint das Stück heute leidlich aus der Zeit gefallen. Zuletzt als ewige Tourneeproduktion wurde Hair im Zelt des Deutschen Theaters blutleer und erkaltet gespielt. Das Musical braucht eine Grunderneuerung und diese erfährt es mit großem Erfolg nun durch das Gärtnerplatztheater samt vieler Zusatzkräfte und motiviertem, gefälligem Sound.

Gil Mehmert baut eine fast regieopernhafte Rahmenhandlung: Im heutigen Alltagsgrau verlieren sich zwei plakative Alltagshippies, bis sie den Opener Aquarius als Protest gegen die dröge Gegenwart anstimmen. Am Ende erfährt der Zuschauer als etwas rührige Pointe, dass die Altachtundsechziger die Eltern Claudes sind, die seinen Soldatentod als GI in Vietnam als Läuterung verstehen und selbst zu Friedens- und Blumenkindern werden. Dazwischen tut sich einiges auf der stimmig gestalteten Szene von Jens Kilian. Die gut aufgestellte Band versteckt der lange hinter einer Amerikafahne, die als Projektionsfläche dient. Aus der Bühne wächst eine stattliche Marihuana-Plantage, zwei Beleuchtungsgestelle erzeugen Blendeffekte, selbst Pferd und Jeep dürfen in der Reithalle nicht fehlen. Denn Langeweile kommt in dieser Inszenierung nicht auf. Weniger Gras als Speed scheint die Droge des Abends zu sein. Mehmert konzentriert sich auf die amerikakritischen Töne, spielt dabei grandios mit Popartanspielungen und interessiert sich wenig für die etwaige Liebesgeschichte von Claude und Sheila. Ideenreich tritt Liz Taylor neben Andy Warhol zur Nachhilfestunde in Sachen Hippiekultur, der Kriegseinsatz wird ansehnlich mit Anleihen an Apocalypse Now in Szene gesetzt, dennoch bleibt Zeit für lockere, anmutige Ringelreigen und Tanzeinlagen von Melissa Kling. Sie kann dabei ebenso wie Mehmert auf ein hochmotiviertes, junges Ensemble zählen, das die Verausgabung und das Demonstrative nicht scheut. Nicht zu quietschbunt und mit gut recherchierten Details wie überzogenen Einfällen eines Tarnfarbenkleides punkten die Kostüme von Dagmar Morell, die nicht der Versuchung erliegt, zu tief in die Faschingskiste zu greifen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die obligatorische Nackedei wird nicht zum Pausenaufreger, sondern zur etwas langen, drastischen Femen-Demonstration. Die nackten Hippies werden von Sicherheitskräften mit Schild und Schlagstock bedrängt, während sie Frieden fordern. Eine plakative, doch mutige Szene abseits der lustigen Sex- und Drogenparty. Damit erzeugt diese Inszenierung sehr bewusst und subversiv Rührung, die sich beim Finale äußert. Allein Good morning starshine verkommt musikalisch wie inszenatorisch zum bräsigen Gekuschel. Es gelingt dennoch das Kunststück, den Staub von den Haarigen zu bürsten und einen sehr leichten Abend mit guten Ansätzen zu liefern.

Foto © Christian Zach

Dabei helfen die vielen Tanzenden, Feiernden und Singenden. Die Rolle des Berger ist grundsätzlich anstrengend und kann leicht nerven, umso schöner die nicht überzogene Darstellung von Dominik Hees als „Tribeführer from outta space“. David Jakobs gibt den Claude stimmsicher mit gewöhnungsbedürftiger Perücke, bewegt sich präsent und schafft angenehme Zwischentöne. Sehr gut zu positionieren weiß sich auch Bettina Mönch, ob auf dem Ross räkelnd, ganz zurückgenommen allein mit der Gitarre oder mutig freizügig als letzte Demonstrantin. Röhriger und rockiger noch klingt Christina Patten als Jeanie. Auftakt und Zwischenhighlights gönnt Mehmert der üblicherweise überzeugenden, da sehr bühnenerfahrenen Dagmar Hellberg, die glockenklar mit Aquarius einsteigt und als Taylor, Mutter und später als Hippie erneut ihre große Kunst verschenkt. Aus dem durchwegs motivierten, freudigen Ensemble stechen Victor Hugo Barreto mit Sinn für Komik und Anastasia Bain als entzückende Supreme heraus.

Laune machen alle bis zum gefeierten Schluss, bei dem das Publikum zum Mittanzen motiviert wird, lange nach anhaltenden Ovationen. Die gelten auch der frischen, groovenden und die Halle heizenden Band unter dem grandiosen Jeff Frohner. Hebt er die Hand zur letzten Let-the-sun-shine-Zugabe, da ist so mancher Späthippie und Jungpazifist gerührt, andere wippen bürgerlich amüsiert, alle haben einen frischen, einen guten und gelungenen Hair-Abend Jahrzehnte nach seinem angelegten Hit erlebt. Bravo.

Andreas M. Bräu