"FIDELIO" IN DORTMUND: DER TABU-BRUCH ALS POINTE?-
von Franz R. Stuke
5.11.2004
Streng kritisch hinterfragt,
bringt Christian Pade den Fidelio auf die eindeutig (Staats-) gewaltdemonstrierende
Dortmunder Bühne - unterstützt von radikal-alternativen Überlegungen des
intelligenten Dramaturgen Oliver Binder zur tatsächlich gesellschaftlich
relevanten Botschaft der so oft - bewusst! - missverstandenen "Freiheitsoper".
Demonstriert wird das Innenleben einer korrupten Gewaltmaschinerie, in der
Machtkämpfe toben, in denen "Befreiung" qua Bestechungsgelder geschehen
kann, Despoten und Oppositionelle austauschbar sind und der einzig "Befreite"
schließlich Florestan ist - während alle anderen Gefangenen brutal-hinterhältig
durch den gefügigen Henker Jaquino vernichtet werden.
So weit, so provozierend - aber auch so aktuell, wie es die Zusammenarbeit
mit amnesty international dokumentiert. Aber die Irritation liegt im finalen
Schluss: Mittels Zyklon-B-Patrone wird Gas in das Verlies geblasen, die
in rot gekleideten Gefangenen sterben unter Krämpfen. Heftige Empörung bei
vielen Zuschauern - nicht die üblichen Opern-Buhs, sondern spontane Erregung
über den offensichtlichen Verweis auf den millionenfachen Mord in Auschwitz.
Und hier stellen sich Fragen, die weit über die kritische Wertung avancierter
Opern-Ästhetik hinausgehen:
- Darf es sich die Oper erlauben, Tabus zu brechen, die das Selbstverständnis
historischer Einmaligkeit endgültig repräsentieren?
- Ist es nicht verantwortungslos, die Gefühle der Überlebenden des grenzenlosen
Terrors zu verletzen?
- Ist die optische Verbindung von Guantanamo mit der Welt-Katastrophe Auschwitz
nicht eine der moralisch-historischen Relativierungen einmaliger Verbrechen?
Diese Fragen gehen weit über die professionelle Bewertung einer provokanten
Opern-Inszenierung mit kritisch-politischem Anspruch hinaus - sie zielen
in die Mitte einer mühselig erarbeiteten Verantwortung für ein schuldbewusstes
Verständnis historisch-reflektierter Gegenwart.
Regisseur und Dramaturg werden auf keinen Fall geschichts-fälschende Intentionen
unterstellt; dazu ist ihre Arbeit an den Quellen internationaler Staats-Terrorismen
viel zu ernsthaft; und in den vorangegangenen zwei Stunden der Revision
des naiven Umgangs mit dem Fidelio-Mythos wird überzeugend kritisch reflektiert.
Deshalb haben wir Christian Pade in unserer Rubrik "Backstage"
zu einer Interpretation Gelegenheit gegeben, ohne aggressive Unterstellungen,
im sicheren Vertrauen auf die Ernsthaftigkeit seiner Arbeit.
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