Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
TANNHÄUSER UND DER SÄNGERKRIEG AUF DER WARTBURG
(Richard Wagner)
Besuch am
27. März 2022
(Premiere)
Man befindet sich in einem Viertel einer deutschen Großstadt, das als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird. Im dortigen Rotlichtviertel – ein Hinterhof mit den Etablissements „Il Paradiso“ und „Club Venus“ – wird die Nacht zum Tag gemacht, treffen sich schrille Personen. Davor, auf einem Straßenzug, treffen sich Leute mit den unterschiedlichsten Migrationshintergründen. Dort, nicht in der mittelalterlichen, romantischen Waldidylle unterhalb der Wartburg, ist Tannhäuser zu Hause. Das Regieteam um Nuran David Calis hat also Richard Wagners romantische Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg in das Hier und Jetzt mit all seinen menschlichen Konflikten verlagert. Und um es gleich vorwegzunehmen: Es lohnt sich, diese schlüssige Sichtweise im Wuppertaler Opernhaus mitzuerleben. Denn kein Detail im Original wird außer Acht gelassen und vollumfänglich ins digitale 20. Jahrhundert transportiert.
Foto © Jens Großmann
Zunächst lebt Tannhäuser bei Venus seine Begierden voll aus. Nachdem er unter Flüchen der Edel-Prostituierten das Milieu verlassen hat, findet er sich auf einem Straßenzug wieder. Ein junger Paketzusteller verteilt Handzettel für den Gesangswettbewerb. Essen wird an Bedürftige verteilt. Obwohl man die Nase über ihn rümpft, weil er sich im Kiez aufgehalten hat, wird er dennoch nach einigem Hin und Her im alten Kreis aufgenommen. Es werden Plakate für eine Friedensdemonstration hergestellt. Dann gibt es ein friedvolles Straßenfest mit allen Migranten, die meisten unter ihnen nahöstlicher Herkunft. Fahnen aus aller Welt werden geschwungen. Anschließend findet das Wettsingen auf einer Promitreppe statt, bekannt aus etlichen Fernsehshows. Tja, Tannhäusers Lied hat mit Sittsamkeit nichts zu tun. Er wird dementsprechend dazu verdonnert, auf Pilgerreise nach Rom zu gehen, um Buße zu tun. Nun greift Calis zurück auf seine anno 2014 entstandene Arbeit Die Lücke – Ein Stück Keupstraße: Der Straßenzug wird anfangs des dritten Akts von einem Nagelbombenanschlag zerstört. In das dadurch entstandene Elend kehren die Pilger ohne den Protagonisten zurück. Er, der entgegen den anderen in Rom kein Pardon erhalten hat, erscheint erst dann als ein aus einem Müllsack Essen suchender, gebrochener Mensch, als die ihn liebende Friedenaktivistin Elisabeth längst von dannen gegangen ist. Das ganze Geschehen dokumentieren Kameramänner und beamen es auf drei Monitore über der Bühne, auf denen zwischendurch Hashtags – also Verweise auf soziale Internet-Medien – erscheinen. Man ist also up to date, überall präsent.
Für diese politische Inszenierung mit ihrer Utopie der friedvollen Gemeinschaft aller Menschen bieten die Wuppertaler Bühnen so gut wie alles auf, was sie vermögen. Die meisten Minnesänger sind Ensemblemitglieder und überzeugen ausnahmslos mit ausdrucksstarken Gesängen: Bariton Simon Stricker als Wolfram von Eschenbach, Tenor Sangmin Jeon als Walther von der Vogelweide und Bass Sebastian Campione als Biterolf. Nur Tenor John Heuzenroeder von der Kölner Oper springt als Heinrich der Schreiber für den erkrankten Mark Bowman-Hester ein. Er integriert sich vorzüglich wie der Bass-Bariton Timothy Edlin als der Landgraf von Thüringen Hermann. Die von Ulrich Zippelius profund einstudierten Chor, Extrachor und Kinderchor der Wuppertaler Bühnen gestalten genauso wie ein Junge der Chorakademie Dortmund trotz gesundheitsbedingter Einbußen ihre Partien sehr gehaltvoll.
Foto © Bettina Stöß
Für Norbert Ernst von der Wiener Staatsoper ist die Rolle als Tannhäuser sein Rollendebüt. Glaubhaft stellt er die innere Zerrissenheit der Person dar, die letztendlich zerbricht. Sein Tenor ist abgesehen von anfänglichen kleinen Problemen in der Höhe in den Registern ausgewogen. Er stellt die Seelenzustände ergreifend dar, auch wenn die Töne manchmal ein wenig zu forciert von der Bühne kommen. Auch Julie Adams ist erstmals als Elisabeth, Tochter des Landgrafen, auf der Wuppertaler Bühne zu erleben. Die US-Amerikanerin brilliert mit einem fein geführten, schönen, tragfähigen und selbst im Piano verständlichen Sopran. Unglaublich anrührend ist ihr verzweifelter Schlussgesang. Die Venus ist Allison Cook, die im Schlussakt auf dem Straßenstrich landet. Der bewegliche, sattelfeste Sopran der Britin passt vortrefflich zu der männerbetörenden Rolle. Last but not least ist Guido Jentjens alias Hermann mit seinem seriösen Bass ein autoritäres Familienoberhaupt, das im zweiten Akt souverän die Übersicht behält.
Mit dieser Produktion gibt Wuppertals neuer Generalmusikdirektor Patrick Hahn seinen Einstand im Wuppertaler Opernhaus. Umsichtig und vorausschauend lotst er das Sinfonieorchester Wuppertal durch die mannigfaltigen musikalischen Gefilde, das differenziert aufspielt. Damit stellt sich der 26-jährige Senkrechtstarter auch als hochtalentierter Dirigent in Sachen Musiktheater vor. Nur in sehr schnellen Abschnitten ist es nicht ganz genau. Die Dynamiken zwischen Bühne und Orchester stimmen, abgesehen von ein paar lauten Passagen. Außerdem kann man sich die musikalisch kontemplativ-introvertierten Teile etwas sinnlicher, mit mehr Herz gespielt vorstellen.
Die Premiere mündet in langanhaltende stehende Ovationen und ist Beweis dafür, dass das ausverkaufte Haus die zeitgemäße, politische Deutung der Oper schätzt.
Hartmut Sassenhausen