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Opulenter Musikgenuss

ANNA BOLENA
(Gaetano Donizetti)

Gesehen am
16. November 2020
(Premiere am 2. April 2011)

 

Staatsoper Wien

Anna Bolena gehört sicher zu den musikalisch besonders ansprechenden, aber auch herausfordernden Belcanto-Opern von Gaetano Donizetti. Es geht um die unglückliche und schicksalhafte Ehe von Anna Bolena mit dem englischen König Enrico VIII. Anna Bolena, die Mutter der späteren Königin Elisabeth I, stirbt am Ende unschuldig auf dem Schafott. Sie fällt einer Intrige ihres eigenen Mannes zum Opfer, der ihr einen angeblichen Ehebruch nachwies, damit einer Scheidung aus dem Weg ging und den Weg freimachte für seine Geliebte Giovanna, Annas Hofdame und Vertraute. Diese auch als „lyrische Tragödie“ untertitelte Oper ist voll von Liebe, Eifersucht, Intrige Hass und Tod und verlangt von den Sängerdarstellern ein hohes Maß an kultiviertem Gesang und ausdrucksstarkem Spiel. Mit der Partie der Anna Bolena sind die Namen vieler großer Sopranistinnen verbunden, darunter Maria Callas oder Edita Gruberova. Anna Netrebko hat nun die Möglichkeit, mit ihrem Rollendebüt an der Wiener Staatsoper in diese Phalanx aufzusteigen. Um es vorwegzunehmen: Sie besteigt den Olymp im Belcanto-Gesang an diesem Abend konkurrenzlos. Die Aufnahme vom 5. April 2011, live im Fernsehen übertragen und für die Nachwelt auf Blu-Ray-DVD erhältlich, entstand nur drei Tage nach einer fulminanten und umjubelten Premiere.

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Es ist ein Abend des opulenten Musikgenusses, aber auch das Auge darf sich satt sehen. Die Handlung, die 1536 in England spielt, ist auch genau in dieser Zeit verortet. Der Hingucker sind zweifelsohne die aufwändig geschneiderten Kostüme von Luisa Spinatelli, die der Zeit des 16. Jahrhunderts am englischen Hofe entsprechen. Jede einzelne Chordame trägt ein Kleid, das auf dem Wiener Opernball Furore gemacht hätte. Allein für Netrebko gibt es gleich mehrere Kostüme. Sie wird entsprechend in „Szene gesetzt“, aber auch Elina Garanča in der Rolle der Giovanna Seymour glänzt optisch und sängerisch. Dafür ist das Bühnenbild von Jacques Gabel und Claire Sternberg eher spartanisch gestaltet. Sehr dunkel gehaltene Arkaden begrenzen die Drehbühne in der Mitte, mit einem Stuhl als Thron oder später einem Bett als einzige Requisite.

Dieser Minimalismus auf der Bühne lässt die Kostüme um so deutlicher hervorstechen. Dieser Minimalismus findet sich dann auch in der Regie von Eric Génovèse wieder, der bei seinem Debüt an der Wiener Staatsoper die Verflechtungen der Protagonisten untereinander nicht wirklich herausarbeitet, sondern diesen Abend mehr mit Rampengesang, dafür aber mit großen Gesten gestaltet. Das hat den Vorteil, dass die Musik und der Gesang im Vordergrund stehen, aber handlungstechnisch wenig passiert. Ohne Untertitel und ohne Kenntnis des Inhalts im Vorfeld könnte man bei dieser Regie der Handlung nicht folgen. Gut gelungen dagegen der Schluss mit einer stilisierten Guillotine und einem großen roten Tuch, dass Netrebko sich über den Kopf zieht, als Zeichen des abgeschlagenen Hauptes, während im  Hintergrund Anna Bolenas Tochter in unverkennbarem „Elizabeth-I-Stil“ das Ganze stoisch mit anschaut.

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In erster Linie glänzt diese Inszenierung durch die optischen Reize und die großartige Musik. Und so bleibt nach über drei Stunden reiner Spielzeit vor allem die sängerische Klasse des Abends in Erinnerung. Allen voran Netrebko, die mit der Anna Bolena zu diesem Zeitpunkt die ideale Partie für sich entdeckt hatte, bevor sie später dann in das dramatische Verdi-Fach wechselte. Sie gibt die Anna Bolena mit gewohntem Ausdruck. Das Gefühlsleben, von enttäuschter Liebe, von Betrug und Trauer bis hin zum Wahnsinn drückt sie in kleinen Gesten und zart wechselnder Mimik aus. Ihre warme, etwas dunkle Mittellage trägt sie durch diese große Partie, und ihre Spitzentöne sind leuchtend klar, ihre Piano-Töne schon fast berückend. Sie singt nicht nur die Hauptpartie, sie drückt auch der Inszenierung ihren ganz persönlichen Stempel auf, aber nicht auf Kosten der anderen Sänger. So zeigt Garanča in der Rolle der Giovanna Seymour sängerisch und spielerisch ebenfalls eine Spitzenleistung. Durch ihren hoch gelagerten Mezzosopran und ihr ebenfalls warmes Timbre in der Mittellage scheinen ihre und Netrebkos Stimme im Duett fast zu verschmelzen. Elisabeth Kulman in der Rolle des Pagen Smeton zeigt eine ausdrucksstarke und gesanglich höchst ansprechende Leistung und darf sich ohne Abstriche in das Terzett der drei Sängerinnen einreihen. Es ist nobler Belcanto-Gesang, manchmal schon zu schön, wenn die Dramatik der Handlung zu kurz kommt.

Ildebrando d’Arcangelo gibt den König Enrico VIII mit markantem Bariton, doch das verschlagene, hinterlistige Spiel kommt nicht so zur Geltung, wie es die Rolle eigentlich vorsieht, ist vielleicht auch der unzureichenden Personenregie geschuldet. Francesco Meli als Lord Percy, dem ehemaligen Liebhaber Anna Bolenas, hat mit seinem an sich schönen leichten Mozart-Tenor anfangs Schwierigkeiten. Das Timbre klingt etwas hart, die Höhen wirken gepresst, auch vom Volumen fällt er anfangs ab, um sich dann aber im zweiten Akt zu fangen und ein großes Finale zu singen. Besonders eindrucksvoll gestaltet er das Duett mit dem Bass Dan Paul Dumitrescu als Lord Rochefort, Annas Bruder. Dumitrescu kann seinen farbenreichen Bass in den wenigen Stellen gut zum Einsatz bringen. Peter Jelosits als Sir Hervey kann an die schon luxuriöse Besetzung der anderen Rollen nicht herankommen.

Musikalisch ist der Abend ein Hochgenuss Donizettischer Musik. Evelino Pidò leitet das Orchester der Wiener Staatsoper mit präzisem Schlag und ausgewogener Tempoführung und führt die Sänger zu Höchstleistungen. Auch der Chor der Wiener Staatsoper, der sich nur sehr wenig bewegen muss, glänzt durch seine großen Ensembles, bestens einstudiert von Thomas Lang und Martin Schebesta. Das Publikum dankt es am Schluss mit langanhaltendem Jubel und Ovationen. Die Videoregie von Altmeister Brian Large ist ganz auf Netrebko zugeschnitten. Wer die Oper noch nicht kennt oder einem Belcanto-Liebhaber eine Freude zu Weihnachten möchte: Mit dieser Aufnahme von Anna Bolena liegt er richtig, zumindest musikalisch, sängerisch und optisch.

Andreas H. Hölscher