O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Tanja Dorendorf

Aktuelle Aufführungen

Ganz und gar Edgar

EDGAR
(Giacomo Puccini)

Besuch am
30. Juni 2018
(Premiere am 29. Juni 2018)

 

Theater St. Gallen, St. Galler Festspiele

Endlich Edgar! Ziemlich genau 130 Jahre hat es gedauert, bis Giacomo Puccinis zweite Oper Edgar nach ihrer Uraufführung 1889 an der Scala in der Schweiz gezeigt wird. Das Theater St. Gallen gibt anlässlich der 13. St. Galler Festspiele die letzte Kurzfassung des selten gespielten Opus und präsentiert bestes wie süffiges Open-air-Musiktheater. Puccini selbst war ein Erfolg seines geschmähten Werks mit dem Libretto von Ferdinando Fontana vergönnt, und an dieser Tatsache änderten auch seine wiederholten Eingriffe in die Partitur und die Kürzung von vier auf drei Akte nichts. Nach rund 90 Minuten unter sternenklarem Himmel vor der imposanten Stiftskirche fragt man sich jedoch einhellig: Wo genau liegt der Makel einer Oper, die alle Ingredienzien hat und deren Musik hochgradig betört, dass sie kaum gespielt wird?

Mit Puccinis Edgar verhält es sich wie mit Verdis Luisa Miller. In beiden Fällen hört man die große Kunst der Maestri, wie sie sich in den kommenden Jahren noch zur vollen Blüte entfalten wird. St. Gallen zeigt Edgar in der endgültigen Kurzfassung von 1905, die erstmals in Buenos Aires gegeben wurde. Das Werk ist stringent und erinnert mit seiner effektvollen Leitmotiv-Technik an die französische Bauerntragödie Amica seines damaligen Kontrahenten Pietro Mascagni. Der Titelheld Edgar ist hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen. Puccini lebte zur Zeit der Komposition selbst in wilder Ehe. In seiner Oper geht er noch weiter und thematisiert das Madonnen-Huren-Prinzip als psychoanalytische Parabel.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Wir sind alle Edgar betitelt denn auch der St. Galler Konzert- und Theater-Direktor Werner Signer die Erläuterungen zur Oper in der Broschüre. Es geht um den Konflikt zwischen Lust und Liebe, wie ihn Richard Wagner schon im Tannhäuser exemplarisch auf den Punkt brachte. Ein Schelm, der beim Bühnenbild mit Wiese und Bäumen in der Mitte keinen Venushügel erkennt. Die schlichte und schlüssige Inszenierung von Tobias Kratzer mit der naturalistischen Ausstattung von Rainer Sellmaier und dem raffinierten Licht von Michael Bauer erinnert an Barrie Koskys stimmige Lesart zu Tschaikowskis Eugen Onegin am Opernhaus Zürich. In den eingangs erwähnten Opern steht eine Dreiecksgeschichte im Zentrum, die tragisch endet. Edgar entscheidet sich anfangs für seine unstete Geliebte Tigrana und verlässt dafür seine Verlobte Fidelia, deren Liebe rein und aufrichtig ist. Mit Edgar und Tigrana scheinen sich zwei Menschen vom gleichen heißblütigen Schlag zu finden, allerdings nur auf Zeit.

Wo die Lust unentwegt lodert, bleibt oft nur verbrannte Erde zurück, und das ist ein denkbar schlechter Nährboden für verbindliche Zweisamkeit. Edgar verlässt auch sein Teufelsweib und versöhnt sich mit Fidelias Bruder, mit dem er in den Krieg zieht. Nach erfolgreicher Rückkehr, inszeniert der Heros seinen eigenen Tod, um herauszufinden, welche der beiden Frauen aufrichtig trauert. Fidelia ist niedergeschmettert, Tigrana lässt sich mit einem billigen Trick dazu bringen, den einstigen Geliebten zu verraten.

Kratzer gelingt es souverän, die Epoche Anfang des 14. Jahrhunderts, in dem sich ein Krieg zwischen Flandern und Frankreich entzündet, in symbolische Bilder zu tauchen. Gleichzeitig vermeidet er mit diesem Kniff den Griff in die Mottenkiste. Im ersten Akt zeigt der Regisseur mit dem Genter Altar von Jan van Eyck eines der Meisterwerke der abendländischen Tafelmalerei. Als Gegenentwurf dazu ist es im zweiten und lustvollen Akt eine Anlehnung an das Gemälde Garten der Lüste von Hieronymus Bosch. Das Regieteam unter der Dramaturgie von Marius Bolten kreiert dabei atemberaubende Momente, wenn sich beispielsweise der Grashügel hydraulisch hebt und allerlei Höllengestalten die Bühne entern. Eine dieser Unglück verheißenden Figuren, eine Art Totenvogel, zieht sich wie ein rotes Band durch die Geschichte und antizipiert damit das ungute Ende. In Kratzers Umsetzung ist der Schluss allerdings etwas weniger todbringend als ursprünglich gedacht.

In St. Gallen sind bis auf die Nebenrolle des Avvoltoio mit David Schwindling alle Rollen doppelt besetzt. Mickael Spadaccini verströmt als getriebener Antiheld einen authentischen Habitus und weiß diese Ungezügeltheit mit kraftvollem Furor umzusetzen. Im Forte gerät der Tenor allerdings nicht selten ins Schlingern, was eine unsaubere Linienführung zur Folge hat. Ist es Nervosität oder eine gewisse Kurzatmigkeit, die Puccinis ausgeprägte Kantilenen auf ein unerwünschtes Nebengleis führen? Bei Elena Rossi, die an diesem Abend die Fidelia singt, verhält es sich wie mit Sonne und Mond, die abwechslungsweise hell über dem Geschehen thronen: Ihre Stimme hat das nötige Volumen, um nicht im Orchester- und Chor-Tutti unterzugehen und diese Strahlkraft bleibt auch in der Dynamik durchwegs lupenrein. Rossi überzeugt mit einer Erste-Sahne-Phrasierung und edlen Legati. Ihre Arie Nel Villaggio d’Edgar berührt nachhaltig, und das liegt auch an ihrer ungekünstelten Rollengestaltung.

Für brennende Leidenschaft ohne Kompromisse sorgt Alžběta Vomáčková in der dankbaren Rolle der Widersacherin Tigrana. Ihr Mezzosopran vibriert vollmundig und setzt prachtvolle Akzente. Wenn Vomáčková in einem der ersten Bilder im Nacktkostüm die versammelte Gemeinschaft während der Anbetung des Lammes mit blasphemischen Tiraden aufschreckt, erinnert das auch musikalisch an das Aufbegehren einer Carmen von Georges Bizet. Domenico Balzani ist Fidelias Bruder Frank und betört mit einem samtenen wie weichen Bariton, der zwar noch nicht alle Schattierungen bedient, aber auf dem besten Weg dazu ist. Stefano Palatchi serviert mit seinem sonoren Bass den perfekten Kontrapunkt, schade nur, dass er als Gualtiero, der Vater der beiden Geschwister, nicht viel zu brummen hat.

Für die Zuschauer auf der Freilichttribüne nicht sichtbar, aber dank ausgeklügelter Tontechnik aus einem nahegelegenen Saal bestens portiert, ist das Sinfonieorchester St. Gallen unter dem klangvollen Dirigat von Leo Hussain. Der Maestro schöpft bei dieser Schweizer Erstaufführung aus dem Vollen und präsentiert Puccinis Edgar ganz und gar in der Tradition der Italianità. Hussain hält die Zügel von Beginn weg straff und führt das Drama sowohl mit feiner Lyrik als auch prägnanter Wucht in die Zielgerade. Viel zu tun gibt es für Chorleiter Michael Vogel, dem mit den Chören aus St. Gallen, Winterthur und Prag die Zusammenführung bestens gelingt und dieser Choroper somit die nötige Brillanz verleiht.

Möge Gott dich vor dieser Oper beschützen, soll Puccini über seinen Edgar gesagt haben. Diese Aussage lässt sich nur im Kontext der damals anhaltenden und unverständlichen Missbilligung erklären. Intendanten sollten den düsteren Nachhall des großen Opernkomponisten ignorieren und Edgar in der Kurz-Variante oder als mittlerweile rekonstruierten Vierakter in die Spielpläne aufnehmen. Der anhaltende Jubel des Festspielpublikums spricht diesbezüglich eine eindeutige Sprache.

Peter Wäch