Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)
Besuch am
17. Oktober 2025
(Premiere am 13. September 2025)
Richard Wagner präsentierte seinen Fliegenden Holländer 1843 in Dresden, im Alter von kaum dreißig Jahren. Die Oper markiert den ersten vollständigen Ausdruck des Wagnerschen Genies. Der junge Komponist zeichnete nicht nur ein überwältigendes Bild der Naturgewalten, sondern etablierte hier auch die für ihn so charakteristische Weltschmerzthematik, resultierend aus unvereinbaren Welten. Zudem schuf Wagner mit Senta eine starke Frauengestalt, die in seinen späteren Werken zu den kraftvollen bis kriegerischen Heldinnen reift. Dem jungen Wagner gelang mit seiner dritten Oper ein brodelndes Klangmeer im Ausnahmezustand, das von seinen eigenen Erfahrungen einer gefahrvollen Schiffsreise von Riga nach London 1839 geprägt ist.
Entsprechend groß sind die Erwartungen an Regisseur Dennis Krauß, der die romantische Oper zum Saisonauftakt am Theater Osnabrück zur Aufführung bringt. Und so schreibt er im Programmheft: „Diese Oper ist ein Sturm, der vorwärtsdrängt. Und genau so will ich die Handlung auf die Bühne bringen: ungebändigt, getrieben, voller Bewegung“.
Der Sturm beginnt mit der Ouvertüre, die wie das Vorspiel zum zweiten Akt bei geschlossenem rotem Samtvorhang akustisch alles vorwegnimmt, was es anschließend auf der Bühne zu sehen gibt. Der Besucher wird stimmungsvoll auf die Spektakel der Naturgewalten und dem endlosen Umherirren des nach Erlösung suchenden Holländers eingestimmt.

Foto © Matthias Horn
Krauß zeichnet bei der Osnabrücker Neuinszenierung nicht nur für die Regie verantwortlich, sondern hat auch die komplette Ausstattung der romantischen Oper übernommen. Nachdem der Vorhang sich zum ersten Akt öffnet, beginnt eine sinnliche Reise durch die Kunstgeschichte mit vielen Zitaten und Referenzen, die die Handlung bereichern und wohltuend komplex gestalten, ohne vom eigentlichen Fokus der Erzählung abzukommen.
Die Texturen von Bühnenbild und Kostümen sind in Anlehnung an den Stil des Informel handbemalt. Man wähnt sich für einen Moment in einer Ausstellung von Karl Otto Goetz, Hans Hartung oder Emil Schumacher. Während die Gesamtbühne und die Kostüme zu Beginn von einem blau-schwarzen Farbkanon geprägt sind, erweitert sich ein glühendes rot-schwarz, als Sinnbild des Holländers, seines Seglers und seiner Mannschaft im Verlauf der Vorstellung und dominiert am Ende werkgetreu auch den Phänotypus der Senta, bevor sie sich, dem Holländer treu ergeben, von der Klippe stürzt.
Die Bühne zeigt einen expressiven Einheitsraum, dessen zentrales Element eine Drehbühne ist, auf der eine sich nach oben verjüngende Spirale gemächlich ihre Runden dreht und dabei das Bühnenbild immer wieder erstaunlich variiert und die gesamte Inszenierung in steter Bewegung hält. Darüber ein schwebender Plafond aus Schiffsplanken. Ein Raum, der atmet. Der treibt. Der rotierende Strudel bietet am Anfang eine breite Rampe, läuft an ihrem Ende auf gut drei Meter Höhe spitz zu und ist verblüffend authentisch Steg, Klippe und Schiffsdeck zugleich. In den Momenten einer rückwärtig gedrehten Spitze zeigt sich das kreisrunde Innenleben der Bühnenkonstruktion mit Raum für Chöre und Statisterie, die sich entsprechend der Handlungsverläufe auch über die Rampe den Wendelgang auf und ab bewegen. Die daraus entstehende Dynamik visualisiert die zentralen Themen der Opernvorlage auf geschickte und einfühlsame Weise, ohne in Hektik oder Aktionismus zu verfallen. Das gilt in ganz besonderer Weise für die Schiffsmannschaften in Umgang und Kampf mit den Elementen.
Von eingefrorenen Chortableaus, die durch die Drehung der Bühne aus dem Off in die Zentralperspektive gerückt und dabei singend zum Leben erweckt werden bis hin zu rote Fahnen schwenkenden Statistinnen, die im dritten Akt die gespenstische Mannschaft des Holländers verkörpern und sozusagen über das sich drehende Bühnenelement eingespult werden, ist die gesamte Personenregie außergewöhnlich detailliert und durchdacht. Immer wieder entstehen wie selbstverständlich neue Eindrücke und Einblicke, die die Handlung plausibel und bildgewaltig begleiten. Einen wesentlichen Anteil an der gelungen Personenführung hat die Choreografin Gal Fefferman, die eine äußerst gelungene Bewegungschoreografie für die Neuinszenierung geschaffen hat.
Wie die konstante Bewegung der Bühne sind auch die Auftritte der Personen von einer kontinuierlichen Dynamik geprägt, die aus einem reichen Repertoire an Gesten schöpft. Während die große Regisseurin Ruth Berghaus in den achtziger Jahren mit ihren langgedehnten Posen und Gesten die Wagnerrezeption inszenatorisch revolutioniert hat und die Bewegungsroutinen einer Pina Bausch mehr von fließenden Abläufen geprägt sind, findet Fefferman zu einer ganz eigenen Bewegungssprache, die ihre Kraft zwar aus dem Statuarischen bezieht, aber niemals in leerer Pose zu verhaften droht.
Beeindruckend frisch in der Form und dennoch überzeugend traditionell in der Aussage, das ist die überragende Mischung, die die Personenregie des Holländers in Osnabrück ausmacht. Insgesamt wird die Inszenierung von einer wohltuenden Abstraktion getragen, die die Handlungsstränge optimal bebildern und das menschliche Beziehungsgeflecht eindrucksvoll aufzufächern im Stande ist.
Überragend die Feinzeichnung der einzelnen Charaktere. Das gilt sowohl für die Protagonisten als auch für den Bewegungschor. Die handgemalten Kostüme finden ihre Entsprechung in der Maske des Bühnenpersonals. Extrem ausdrucksstark die geschminkten Gesichter, die an Stummfilm-Charaktere der zwanziger Jahre, wie Das Kabinett des Dr. Caligari, oder an die ikonischen Filme eines Tim Burton erinnern, die in ihrer Ästhetik jeweils dem deutschen Expressionismus verbunden sind. Immer wieder fließen auch Metaphern des norwegischen Expressionisten Edward Munch mit ein, seiner Landschaften und seinen ikonischen Variationen von Der Schrei.
Über den gesamten Abend hinweg ist es immer wieder beeindruckend, wie der abstrakte Bühnenraum äußerst raffiniert die Illusionen der Betrachter zu beflügeln vermag. Die oberste Spitze der Spirale wird zum Bug eines Seglers, der Segler des Holländers selbst schwebt als gleißend rotes Menetekel in Form eines offenen Ovals im Bühnenhimmel. Während der Auftritte des endlos Umherirrenden kommt das aus einzelnen Holzplanken gefertigte Konstrukt diagonal abgesenkt, den Handelnden immer wieder bedrohlich nah. Projektionen auf ein weißes Trapez im Bühnenhintergrund bereichern meist abstrakt die atmosphärische Gesamteinbettung und kommentieren den Holländer und seine Mannschaft vereinzelt in schematischen Darstellungen.
Am Ende springt Senta von der Spiralklippe in den Erlösung bringenden Tod und ein auratischer Lichtkegel aus dem Schnürboden beendet stimmungsvoll den ewigen Fluch, während rotes Licht von der nebelumfangenen Bühne in den Zuschauerraum ausgreift.
Optisch und szenisch ist die Inszenierung des Fliegenden Holländers in Osnabrück eine ästhetische Offenbarung.
Die musikalische Seite des Abends wird von der Leistungsfähigkeit des Theaters am Domhof getragen.
Überragend die hauseigene Senta von Susann Vent-Wunderlich, die schon zuvor in ihren Interpretationen, von der Traviata bis zur Rusalka, aufhorchen ließ. Eine Sopranistin der Extraklasse, die ihre wandlungsfähige Stimme allen Situationen und Aufgaben adäquat anzupassen vermag. Als Senta zeigt sie sich ausgesprochen intensiv in der Darstellung und überaus nuancenreich im Ausdruck. Vent-Wunderlichs Sopran fasziniert ungemein in den leisen, besonders zarten Momenten. Mit wunderbarer Diktion und präziser, glasklarer Intonation sorgt sie für Augenblicke, die innig und berührend sind. Nichtsdestotrotz verfügt die Stimme über Volumen und Strahlkraft, dabei stets wohldosiert und in der Lage, sich zugunsten einer authentischen Rollenverkörperung auch einmal zurücknehmen zu können.
An ihrer Seite als Einspringer für den erkrankten Martin-Jan Nijhof die Zweitbesetzung des Holländers durch Derrick Ballard. Wenn auch die Details der choreografischen Elemente in der Kürze der Zeit nicht mehr einstudiert werden konnten, so entspricht der beeindruckende Bass-Bariton den besonderen Aufgaben der Inszenierung doch sehr gut. Seine Stimme vermag besonders in der Mittellage den Zuschauerraum zu durchdringen und für den passenden Holländer-Schauer zu sorgen.

Foto © Matthias Horn
Desgleichen fasziniert der Daland von Dominic Barberini mit seiner sonoren Baritonstimme und seiner glaubwürdigen und facettenreichen Bühnenpräsenz. Etwas schwächer an diesem Abend Ilker Arcayürek als Erik und Florian Wugk als Steuermann, die zwar darstellerisch die Produktion entscheidend mittragen, aber stimmlich ihren Rollenvorgaben nicht ganz zu entsprechen vermögen. Nadia Steinhardt als Mary vokal uneingeschränkt präsent und neben Vent-Wunderlich unermüdlicher Motor der besonderen Bewegungschoreografie.
Chor und Extrachor des Theaters Osnabrück glänzen unter der Leitung von Sierd Quarré mit beachtlicher Leistung. Während die Herrenchöre mit den ganz besonderen Herausforderungen an die Koordination von Bewegung und Gesang recht gut zurechtkommen, gibt es bei den Frauenchören hin und wieder Koordinierungs- und Einsatzunsauberkeiten. Abgesehen von diesen minimalen Einschränkungen zeigen sich die Chöre an diesem Abend klangschön und stimmgewaltig.
Dem neuen Generalmusikdirektor Christopher Lichtenstein gelingt mit seinem Wagner-Dirigat ein eindrucksvoller Einstand. Das nicht allzu große Osnabrücker Symphonieorchester bleibt der anspruchsvollen Partitur nichts schuldig. Abgesehen von einzelnen Schwächen bei den Hörnern und minimalst ausgedünnten Streicherbögen ist auch die musikalische Seite des Abends von Erfolg gekrönt.
Das Publikum im ausverkauften Haus dankt ausgedehnt allen Beteiligten für den bewegenden und mitreißenden Theaterabend.
Immer wieder fasziniert das Theater Osnabrück mit stimmigen, anspruchsvollen Produktionen, in denen sowohl das Regiekonzept als auch die musikalische Qualität überzeugen, bedauerlicherweise noch meist unbeachtet jenseits der eingetretenen Pfade des überregionalen Feuilletons.
Bernd Lausberg