Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ABSCHIED UND HOFFNUNG
(Luigi Boccherini, Jean Françaix)
Besuch am
17. Dezember 2021
(Einmalige Aufführung)
Beim Ensemble Ruhr – dem „Kammerorchester des Ruhrgebiets“ – weiß man nie so genau, wohin es einen beim nächsten Konzert entführt. Beim letzten Auftritt dieses Jahres lädt es in Gelsenkirchens ältestes Kirchengebäude ein, die Bleckkirche im Stadtteil Bismarck. 1735 erbaut, ist die evangelische Kirche heute ein Raum für Kirche und Kultur. In der „Capelle am Blecke“ – so der ursprüngliche Name – findet sich als historisches Kleinod ein Altar aus dem Jahr 1574, der ursprünglich in der Kapelle von Schloss Herten stand. 1889 erhielt die Kirche ihre bis heute gültige Gestalt, 1996 wurde sie grundlegend renoviert. Seither wurden nach eigenen Angaben mehr als 800 Veranstaltungen aus den Bereichen Musik, Tanz, Theater, Kunst, Literatur und Film durchgeführt. Ein kleines überschaubares Haus, das über eine ausgezeichnete Akustik verfügt und in dem man sich gleich wohlfühlt – so der erste Eindruck. Bis der Hausherr einen als unbekannten Gast knurrig abfertigt. Das sollte aber Gäste von außerhalb nicht davon abhalten, der Kirche, die ihr Kulturprogramm regulär von März bis Oktober anbietet, zu besuchen. Schwieriger wird es da schon, wenn der Pfarrer in seiner Begrüßungsrede nicht nur die Regeln deutscher Sprache missachtet, sondern die Menschen, die zu ihm kommen, in Männlein und Weiblein einteilt. Da scheint jemand mit seinem theologischen Weltbild zu hadern. Was noch lange kein Grund ist, andere Menschen damit zu behelligen.
Elisabeth Menke – Foto © O-Ton
Anna Betzl-Reitmeier, gemeinsam mit Antje Weltzer-Pauls Künstlerische Leiterin des Ensemble Ruhr, geht mit ihrer erfrischend kurzen Begrüßung rasch über den Fauxpas hinweg und führt hin zum Programm des heutigen Abends. Ehe es zur eigentlichen Aufführung kommt, soll ein Film gezeigt werden, der noch einmal an die Zeit des Lockdowns erinnert und aufzeigen will, wie sich die Künstler in dieser Zeit gefühlt haben. Der Film ist auch auf der Website des Ensembles und bei YouTube zu finden. Damit das funktioniert, verdeckt eine Leinwand den kostbaren Altar. Davor sind der Beamer und zwei Lautsprecher aufgebaut. Das wirkt ausgesprochen professionell. Aber der Film von Klaus Betzl hat seine Tücken in der Lautstärke. Bei einer öffentlichen Aufführung darf man erwarten, dass die Beschallung ausgeglichen ist. Nach annähernd 40 Minuten, in denen die Zuschauer einen Eindruck von den Probenarbeiten bekommen, die letztlich nahezu alle für die Katz waren, fühlt sich das Publikum hilflos. Es hat verstanden, dass die Musiker gern vor Menschen spielen wollten, aber was hätten sie tun sollen? Das Dilemma wird nicht aufgelöst. Und so bleibt der Nachgeschmack von Selbstmitleid und offenen Fragen. Das in der Nachkriegszeit einmalige Aufführungsverbot ist nicht mit einem Videofilm aufzuarbeiten. Es wird noch lange dauern, bis dieser ungeheuerliche Vorgang sowohl bei Kulturarbeitern als auch bei ihrem Publikum verarbeitet sein wird. Und so bleibt der Applaus höflich. Was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass jeder Versuch, mit dem einmaligen Phänomen umzugehen, gerechtfertigt ist.
Federico Aluffi – Foto © O-Ton
Ursprünglich war geplant, dass die Akteure des Films anschließend im Mittelteil der Kirche live auftreten und so ein Wiedererkennungseffekt eintritt, der die Wirkung des Films noch einmal verstärken könnte. Leider ist die Sängerin Barbara Schachtner zum Zeitpunkt der Aufführung erkrankt. Ein herber Verlust, weil Schachtner neben ihren gesanglichen Qualitäten vor allem mit Bühnenpräsenz arbeitet und ganz eigene Interpretationen anbietet. Krank ist krank. Sie hätte die Sopranistin in Luigi Boccherinis Stabat Mater in f-moll opus 61 G. 532 für Sopran und Streichquartett sein sollen. Mit Elisabeth Menke ist ein Ersatz gefunden, der über jeden Zweifel erhaben ist. Wunderbar tariert sie ihre Stimme in einer Akustik aus, die fast alles gestattet. Hinzu kommt, dass das Streicherquintett ihr zuarbeitet. Johannes Berger und Anna Betzl-Reitmeier unterstreichen am Cello die untere Klanglinie mit seidenweichem Strich, Annette Walther und Antje Weltzer-Pauls mit ihren Geigen verstärken den melodischen Klang mit Verve und Friederike Imhorst gibt der menschlichen Stimme mit ihrer Bratsche noch mehr Hintergrund. Eine eindrucksvolle Darbietung, auch wenn das Stabat Mater als Gedicht des Abschieds eigentlich nicht in diese Zeit gehört.
Aber es ist eben ein Abend der Gegensätze. Hier der Film aus einer schier unerträglichen Vergangenheit, dort die Gegenwart mit strahlenden Musikern, die froh sind, für das Publikum aufspielen zu dürfen. Zu Beginn der Abschied, zum Abschluss die Hoffnung. Jean Françaix war ein Pianist und Komponist, der 1912 in Le Mans geboren wurde und 1997 in Paris starb. Von ihm stammt das zweite Stück des Abends, ein viersätziges Divertissement für Fagott und Streichquintett aus dem Jahr 1942. Dazu gibt Betzl-Reitmeier ihren Platz an Eduardo Rodriguez Romanos am Kontrabass ab, und Menke wechselt mit dem Fagottisten Federico Aluffi. Der hat wahrhaft den Schalk im Nacken, lässt das Fagott fröhlich quasseln und genießt wie seine Kollegen die Leichtigkeit des Stücks, das in einigen Passagen durchaus an Ein Amerikaner in Paris von George Gershwin aus dem Jahr 1928 erinnern mag. So geht ein Abend, der mit so viel Ernst begann, reichlich beschwingt zu Ende. Da ist die Vorfreude darauf groß, wohin das Ensemble Ruhr im neuen Jahr seine Gäste entführen wird.
Michael S. Zerban