O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Julia Sophie Hagenmüller, Ursula Göller, Eva Marti, Katharina Fulda, Tobias Glagau, Ferdinand Junghänel, William Drakett und George Clark (v.l.n.r.) - Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Fein gesponnen

ES WERDE GESANG
(Diverse Komponisten)

Besuch am
16. Februar 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Johanneskirche, Düsseldorf

Sie sind jung, sie sind perfekt ausgebildet und sie haben Hunger. Eigentlich hatte Wolfgang Abendroth, Kantor an der Johanneskirche in Düsseldorf, im vergangenen Jahr acht Sänger eingeladen, ein Ensemble zu gründen, dass die Gottesdienstgestaltung mit Renaissance- und Barock-Repertoire anreichert. So weit, so langweilig. Schnell wurde klar, dass die Sänger mehr wollten als „nur“ in Gottesdiensten anzutreten. Und einen Namen wollten sie auch haben. So, ganz im Groben, entstand das Rheinstimmen-Ensemble. Ein achtköpfiges Vokalensemble, das nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart oder zumindest die jüngste Vergangenheit auf dem Plan hat, was die Komponisten ihrer ausgewählten Werke angeht. Im vergangenen Jahr gab es einen ersten Auftritt in der Kölner Oper, der allgemein goutiert wurde. Auch die Kirchenauftritte erfreuten sich großer Beliebtheit. Jetzt aber will das Rheinstimmen-Ensemble durchstarten. In seiner Heimstatt, der Johanneskirche, lädt es zu einem Antrittskonzert ein.

„Freier Eintritt, um Spende wird gebeten“: Das liest man immer häufiger bei kleineren Veranstaltungen, die nicht das Geld haben, um die von der Gesellschaft für musikalische Aufführungsrechte geforderten Gebühren bei eintrittspflichtigen Kleinstveranstaltungen, die die zu erwartenden Einnahmen bei Weitem übersteigen, zu umgehen. Taucht also dieser Spruch auf der Eintrittskarte auf, sind „Spenden“ dringend nötig. Es ist eine entwürdigende Situation, in die die GEMA kleinere Aufführungen zwingt. Und hat ganz nebenbei auch mit der Gründungsidee dieser Gesellschaft nicht mehr das Mindeste zu tun, die eigentlich dazu angetreten ist, Musikern ein Überleben zu ermöglichen, inzwischen aber längst ihren Daseinszweck der Profitgier geopfert hat. Im Falle dieses Antrittskonzertes scheint allerdings gerade diese absurde Regelung dazu geführt zu haben, dass sich der Kirchenraum bis auf den nahezu letzten Platz füllt.

Oder war es doch das sorgfältig ausgearbeitete Programm, das unter dem Titel Es werde Gesang die Leute in die Kirche in der Düsseldorfer Stadtmitte lockte? Möglicherweise war es sogar der Untertitel Von der Entfesselung der Stimmen, der für den Ansturm sorgt.

Julia Sophie Hagenmüller, Ursula Göller, Ferdinand Junghänel und Eva Marti (v.l.n.r.) – Foto © O-Ton

Zahlreiche Mikrofone sind vor dem Altar der Kirche aufgebaut, aber die interessieren die Sänger vorerst nicht. Sie schreiten zur Mitte des Kirchenraums, bauen sich im Kreis auf und intonieren Wolfgang Rihms Mit geschlossenem Mund. So schlagen die acht Sänger das Publikum von der ersten Sekunde an in Bann, ehe sie vor den Altar treten und mit Johann Bachs Unser Leben ist ein Schatten aus dem 17. Jahrhundert die Spannung aufrechterhalten. In der Kirche ist es abseits des Gesangs mucksmäuschenstill. Gebannt verfolgen die Besucher den Text im Abendzettel, der auch darauf aufmerksam macht, dass darum gebeten wird, von Applaus abzusehen, um die Dramaturgie nicht zu zerstören. Dieser Bitte wird bis zum Mormorando von Salvatore Sciarrino entsprochen. Dann kann sich das Publikum nicht länger beherrschen und applaudiert stürmisch.

Die Sopranistinnen Ursula Göller und Julia Sophie Hagenmüller, die Altistinnen Katharina Fulda und Eva Marti, die Tenöre Tobias Glagau und Ferdinand Junghänel, ja, es ist der Sohn des Dirigenten Konrad Junghänel, sowie die Bässe George Clark und William Drakett haben eine Dramaturgie für ihr Programm gewählt, die sie selbst wie folgt beschreiben: „… geschlossene Münder, gedämpfter Klang, Sprachlosigkeit, verschwommene Nebel, uneindeutige Schatten, Flüchtigkeit, sich nicht artikulieren können, unverständliches Murmeln, doch die Stimme setzt an zum Gebet, fleht um Erbarmen, befreit sich und mündet schließlich in Gesang, in jauchzende Koloraturen und entfesseltes, klangvolles Jubilieren …“ Und die erhoffte Wirkung bleibt nicht aus.

Nach Henry Purcells prachtvoll vorgetragenem Hear my prayer, O Lord aus dem 17. Jahrhundert geht es weiter zum Jesus, erbarme dich von Claude Vivier aus dem 20. Jahrhundert. All das fügt sich ganz wunderbar, erlaubt, die ganze Stimmpracht des Oktetts in der bestens dazu geeigneten Akustik der Kirche zu vollem Glanz zu bringen. Dass die jungen Leute ihr Programm bis ins i-Tüpfelchen durchdacht haben, zeigt sich auch in wechselnden Aufstellungen, mit denen sie die Stimmwirkung optimieren. Nach Sven-David Sandströms Fürchte dich nicht und Hermann Scheins Wie lieblich sind deine Wohnungen – wieder springen die Sänger zwischen den Jahrhunderten hin und her – kann der Abend nach den Ansprüchen der jungen Leute eigentlich nur in einem Komponisten münden. Und so kommt es auch. Von Markus Michael auf dem Continuo begleitet, erschallt Johann Sebastian Bachs Motette Singet dem Herrn ein neues Lied. Da ist er, der entfesselte Gesang.

Auf ziemlich genau eine Stunde getaktet, wäre dieser Abend für eine Plattenaufnahme reif. Das empfindet auch das Publikum so, das stehend applaudiert und die Beteiligten für eine grandiose Gesamtleistung feiert. Kommt zukünftig die Routine hinzu, werden die jungen Damen und Herren sicher auch Gelegenheit finden, den Blick häufiger vom Notenblatt ins Publikum zu richten. Und dass wir sie noch häufig hören werden, scheint nach diesem außerordentlichen Ereignis des heutigen Abends mehr als gewiss.

Michael S. Zerban