O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Grand Opéra vor kleinem Publikum

LA MUETTE DI PORTICI
(Daniel-François-Esprit Auber)

Besuch am
13. März 2020
(Generalprobe II)

 

Theater Dortmund, Opernhaus

Es ist schon immer erstaunlich, auf welche Ideen Komponisten kommen, um Personen besonders hervorzuheben. In Mozarts Entführung aus dem Serail darf der Katalysator der ganzen Befreiungsaktion und Liebesverwirrungen, Bassa Selim, nur sprechen, während alle anderen ihren Emotionen in überwältigender Musik freien Lauf lassen. Noch weiter gehen Daniel-François-Esprit Auber und die Librettisten Augustin Eugène Scribe und Germain Delavigne in ihrer Oper La muette de Portici, übersetzt die Stumme von Portici. Ja, die Titelfigur in einer Oper ist stumm, singt keinen Ton und ist doch relativ viel auf der Bühne anzutreffen. Regisseur Peter Konwitschny führt ihre Sprachlosigkeit auf ein Trauma zurück. Während der Ouvertüre sieht man, wie ein junges Mädchen mit dem Süßigkeiten-Trick hinter den Vorhang gelockt wird. Das ist ein bisschen plakativ, aber durchaus plausibel.

Die Oper selbst hat weniger psychologische Wirkungskraft als vielmehr revolutionäre. So ist la Muette de Portici, zwei Jahre nach ihrer Uraufführung 1828, der musikalische Katalysator für die beginnende Revolution in Belgien gegen die Niederlande. „In ganz Brüssel hörte man in jener Nacht das Duett aus Aubers Oper, wo es heißt, dass es nichts Schöneres gibt, als für das Vaterland zu sterben“, berichtet ein Augenzeuge. Gesungen wird dieses Duett von den beiden neapolitanischen Fischern Pietro und Masaniello, letzterer hat sein historisches Vorbild in Tomasso Aniello, der 1647 einen Fischeraufstand gegen den spanischen Vizekönig anführte. Der Revolution wird durch dessen Steuerpolitik ausgelöst, während man in der Oper noch mehr Dramatik und Verwicklungen braucht. So wird Masaniellos stumme Schwester von Alphonse, dem Sohn des Vizekönigs, verführt. Alphonse frisch angetraute Frau Elvira erfährt davon und schützt das Mädchen vor weiteren Übergriffen. Die Revolution kommt trotzdem am Schluss des ersten Teils in Fahrt. Im zweiten Teil setzt dann bei Masaniello das Umdenken ein, der das wahllose Morden von Pietro und seinen Anhängern nicht dulden möchte. Fenella wiederum versucht nun, Elvira und ihren reuevollen Mann vor dem Mob zu schützen. Pietro vergiftet Masaniello, das eintreffende spanische Heer zerschlägt die Revolution und der ausbrechende Vesuv verschlingt die gesamte Stadt. Selten hat es in einer Oper wohl so viele Tote gegeben.

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Der originale Verlauf der Handlung klingt in heutigen Ohren schon etwas krude, die Musik von Auber kann das kaum auffangen. Irgendwo angesiedelt zwischen den Belcanto-Stilen von Donizetti, Rossini und Bellini und als Vorläufer der französischen Grand Opéra muss man die Oper vermutlich mehrmals hören, um sich an ihren Stil zu gewöhnen. Zumindest will sich der rote Faden einer zwingenden Komposition nicht direkt offenbaren. Den besten Eindruck hinterlassen am besten die Momente, in denen sich die Grand Opéra in großen Chorszenen durchsetzt und den Geist der aufflammenden Revolution atmet.

Was die Aufführung an der Oper Dortmund angeht, so bekommt sie fast auch einen revolutionären Charakter gegen die Einschränkungen des kulturellen und sozialen Lebens durch die notwendigen Maßnahmen gegen das Corona-Virus. Eine normale Premiere wird abgesagt. Stattdessen wird eine Generalprobe II angesetzt, damit man wenigstens den Medienvertretern das hart erarbeitete Ergebnis vorstellen kann. Allergrößtes Lob muss man dabei dem Ensemble aussprechen, dass sich die Umstände nicht anmerken lässt, sondern wie für ein volles Haus spielt. Konwitschny liefert sozusagen seine Generalprobe für den Ring des Nibelungen, der in der nächsten Saison startet. Diese Arbeit hinterlässt einen eher zwiespältigen Eindruck. Nachteilig für die Musik wirkt sich aus, dass er die Oper bilingual singen lässt. Natürlich macht es dramaturgisch Sinn, die Adligen ein elegantes Französisch singen zu lassen, den Pöbel dagegen ein umgangssprachliches Deutsch. Aber dieser Eingriff wertet die Musik zusätzlich ab, nimmt ihr die einzige Konstante und macht so manche Phrase für die Sänger quasi unsingbar.

Auch dass der Regisseur manch augenzwinkernden Kommentar einfügt, um Brüche und für heutige Gemüter eher unverständliche Wendungen der Oper zu verdeutlichen, macht die Szene nicht besser. Beispielweise verzeiht Elvira ihrem untreuen Ehemann doch arg schnell, kaum dass der seinen Oberkörper entblößt hat und die beiden fallen sich stürmisch auf dem Bett in die Arme. Dirigent Motonori Kobayashi muss das Paar dann zum Weitersingen auffordern. Auch der Einsatz eines Kofferradios, das eine sehr schöne Chorszene akustisch ruiniert, wirkt gewollt und nicht gewinnbringend. Sehr viel besser ist die Inszenierung, wenn sich Konwitschny auf die Personenführung konzentriert. So gelingt ihm zum Beispiel die Einbindung der stummen Rolle Fenella auf die dafür von Auber komponierte Musik sehr gut. Sarah Wilken schafft es, sich inmitten der vielen Stimmen mit ihrer Körpersprache durchaus Gehör zu verschaffen. Als Höhepunkte darf man die beiden großen Szenen mit ihrem Bühnenbruder Masaniello ansehen, die psychologisch sehr gut ausformuliert sind.

Auch das apokalyptische Finale wird dank des Bühnenbildes von Helmut Brade und der Lichttechnik von Ralph Jürgens brillant theatralisch umgesetzt. Brade interpretiert die Grand Opéra mit modernen Mitteln quasi neu, nutzt dabei die Bühnentechnik konsequent aus, aber verwendet auch Anspielungen an die gemalten Bühnenprospekte aus längst vergangenen Zeiten. Für die Sänger hätte man sich dabei etwas mehr akustische Abgrenzung und Unterstützung gewünscht, da der Bühnenraum doch meistens sehr offen ist.

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Gesungen wird auf einem sehr hohen Niveau und das an einem Tag, an dem das emotionale Nervenkostüm auch mal an der Garderobe hängen bleiben kann. So müsste man Tenor Sunnyboy Dladla als Alphonse noch mal hören, wenn sich die äußeren Umstände etwas beruhigt haben. An diesem Abend hinterlässt er vor allem im ersten Teil einen eher unsicheren, angespannten Eindruck. Er gewinnt an Sicherheit, wenn er seine Bühnenpartnerin Anna Sohn an seiner Seite hat. Sie wirkt als Prinzessin auch sehr souverän und zugleich auch humanistisch. Zu ihrer starken Persönlichkeit passt auch ihr höhensicherer, glasklarer Sopran, von dem man gerne noch mehr gehört hätte. Mirko Roschkowski wirkt absolut gefeit sowohl gegen die Umstände als auch gegen die Tatsache, dass er die ohnehin schwierige Partie des Masaniello auf Deutsch singen muss. O-Ton gegenüber gesteht der Tenor, dass er tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hat, die Partie zurückzugeben, als er von Konwitschnys Absichten gehört hat. Er bedankt sich vor allem bei Monotori Kobayashi, der ihm bei der Bewältigung dieser Herausforderung geholfen hat. Zu hören sind diese Sorgen nicht. Roschkowski schafft es sogar, diesen hölzernen Phrasen eine französische Eleganz abzugewinnen und bewältigt auch die exponierte Lage agil und ohne Einbußen einer Stimmkraft und Bühnenpräsenz, die einem Belcanto-Anführer sehr gut steht. In dem oben erwähnten Duett hebt sich von seinem Tenor das erzerne Timbre von Mandla Mndebele sehr gut ab. Der Bariton verkörpert den unversöhnlichen Charakter des Pietro mit Bravour.

In kleinen Rollen hört man Dennis Velev, Timothy Edlin, Jorge Carlo Moreno, Ian Sidden, Carl Kaiser und Séverine Maquaire, die ebenfalls das vokale Niveau halten. Fabio Mancini hat den Opernchor Theater Dortmund bestens vorbereitet, der seinen großen Part bestens ausfüllt. Egal, ob als adlige Hochzeitsgäste mit schönem Französisch oder als erzürnte Fischer mit raspelndem Deutsch singt er sehr konzentriert und hoch motiviert. Auber hat dem Chor an einer dramaturgisch sehr fraglichen Stelle einen ruhigen A-Cappella-Part geschrieben. Wenn er so bewegend gesungen wird, wie an diesem Abend, dann ergibt er doch einen Sinn. Kobayashi hat die Oper mit einigen Eingriffen und Kürzungen gestrafft, achtet sehr genau auf die Einsätze der Sänger und schafft es, dieser Oper einen guten Fluss samt der nötigen Dramatik zu geben. Die Dortmunder Philharmoniker lassen sich nicht anmerken, dass diese Oper nicht zu ihrem vertrauten Repertoire gehört, sondern spielen dynamisch und raffiniert, mal begleitend, dann wieder vorantreibend.

Vor allem also aus musikalischer Sicht ein sehr gelungener Opernabend mit einer Rarität, auf die normalerweise – so viel kann man schätzen – ein Bravo-Orkan gefolgt wäre. Stattdessen: Knapp 50 Menschen klatschen zufrieden, manche aber auch nur pflichtbewusst. Es ist fast etwas gruselig. Eine echte Geisterpremiere. Wäre der Chor nicht eingesprungen und hätte die Solisten samt Dirigenten gefeiert, hätte der Abend ein ganz tristes Ende gefunden. Das ist besonders traurig, weil nun die Opernlandschaft für die nächsten Wochen verstummen wird.

Rebecca Broermann