O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Überschäumende Vielfalt

BEETHOVEN PIANO CLUB
(Diverse Komponisten)

Besuch am
28. Februar 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Pantheon-Theater, Bonn

Konzept: grandios. Umsetzung: im Wesentlichen gelungen. Spielstätte: ungewöhnlich, interessant, anheimelnd, akustisch großartig. Zeitaufwand: mindestens rücksichtslos. Damit wäre der heutige Abend besprochen. Und doch würde man der neuen Konzertreihe von Susanne Kessel in all ihrer Komplexität damit nicht gerecht. Kessel hat sich einen Namen mit dem Projekt 250 piano pieces for Beethoven gemacht. 2020 hat sie Komponisten aufgerufen, ihr ein Stück zuzuschicken, das „ausschließlich für Piano und nicht länger als die längste der Bagatellen von Beethoven“ sein sollte (O-Ton berichtete). Bis heute sind es tatsächlich 260 Kompositionen geworden. Jetzt hat sie die neue Konzertreihe Beethoven Piano Club ins Leben gerufen, die im Januar dieses Jahres begann und – abgesehen von einer Sommerpause – monatlich stattfinden soll. Spielstätte ist das Pantheon-Theater in Bonn.

1987 unter anderem von Rainer Pause gegründet, hat das Pantheon-Theater heute seinen Sitz in einer ehemaligen Fabrikhalle im Bonner Stadtteil Beuel und hat sich als Spielstätte für die Kleinkunstszene längst einen überregionalen Ruf erarbeitet. Kostenlose Parkplätze vor der Tür entschädigen dafür, dass man in die Provinz mit Tempo 100 auf der Autobahn mit Radarfallen, auf dem Rückweg durch Industriegebiete mit Tempo 80 „wegen Lärmschutz“ fährt und in der Tempo-30-Zone „wegen Lärmschutz“ vom mobilen Blitzer bedroht wird. Wie schön, wenn man an dieser Wegelagerei vorbei unbeschadet in den Saal kommt. An der Rückwand beeindruckt eine überdimensionale Bar, rechts gibt es eine ausreichend große Bühne, um einem Flügel großzügigen Platz zu bieten. Der Raum ist gefüllt mit Stühlen und Tischen, eifriges Personal ist bemüht, die zahlreichen Gäste mit Getränken und Snacks zu versorgen. Hier darf man sich zu Hause fühlen.

Nina Gurol – Foto © O-Ton

Der Name Beethoven Piano Club täuscht. Tatsächlich spielt der Komponist die geringste Rolle an diesem Abend. Susanne Kessel lädt sich Gäste ein wäre passender. Das Prinzip des Abends klingt in der Eröffnung von Kessel einfach, wird aber erst später verständlich. Ein Hauptgast gibt ein Thema vor, die übrigen Gäste beziehen dazu nachfolgend Stellung. An diesem Abend spielt als erstes die Pianistin Nina Gurol auf. Sie hat in Köln studiert, ist derzeit in Karlsruhe Promotionsstudentin, arbeitet als Konzertkuratorin und ehrenamtlich als Sterbebegleiterin in Leverkusen. Nach der ersten Bagatelle aus dem Opus 126 von Ludwig van Beethoven kommt Gurol auch gleich auf das Thema Sterbebegleitung und Musik zu sprechen. Dazu hat sie die schöne Geschichte von Marita parat, einer lebenslustigen Frau, die darüber nachdenkt, wie die Musik am Ende ihres Lebensweges wohl klingen soll. Auch wenn sie hier – in Anbetracht des Durchschnittsalters ihres Publikums – in der Zielgruppe ist, stellt man sich nicht nur zu diesem Zeitpunkt die Frage, ob sich dieses hochsensible und komplexe Thema tatsächlich für einen unterhaltsamen Abend eignet. Eine zufriedenstellende Antwort wird man auch am Ende des Abends nicht gefunden haben, das Unbehagen bleibt.

Als nächstes begrüßt Gurol den Komponisten York Höller, der im Alter von 79 Jahren angereist ist, um die Aufführung seiner Stücke zu erleben. Höller, gebürtiger Leverkusener, war neben seinen kompositorischen Erfolgen unter anderem auch neun Jahre lang Leiter des legendären Studios für elektronische Musik beim Westdeutschen Rundfunk. Nicht durchdacht hat man die Durchführung des Gesprächs. Und so steht Höller während seiner Ausführungen mit dem Rücken zum Publikum. Gurol lässt seine dritte Klavier-Sonate im Anschluss erklingen, ehe sie den dritten Satz der Klavier-Sonate in d-moll von Emilie Mayer, einer Komponistin aus dem 19. Jahrhundert, und Franz Schuberts dreisätzige Sonate für Klavier in a-moll erklingen lässt.

Dmitry Batalov – Foto © O-Ton

Nach der ersten Pause kommen also die übrigen Gäste zu Klang. Den Anfang macht Dmitry Batalov, ein junger Pianist, der eigens aus Basel angereist ist und in den große Hoffnungen bezüglich der Interpretation heutiger Musik gesetzt werden. Mit dem Stück Beben von Matthias S. Krüger, dem 260. Stück aus 250 piano pieces for Beethoven, gibt es nicht so viel Grund zur Freude, was nicht an der Darbietung liegt. Es gehört ja inzwischen zum „guten Ton“ bei Kompositionen für das Klavier moderner Tonsetzer, nicht nur die Tasten, sondern auch die Saiten direkt anzuspielen. Wenn das allerdings nur gelingt, indem man die einzelnen Versatzstücke „aneinanderstöpselt“, ist es, mit Verlaub, Geklimper. Eine wahre Wohltat danach die Romanze op. 22 Nr. 1 von Clara Schumann, auch die wieder wortreich eingeführt. Und wenn man denn beschließt, auch einen Amateur einzuladen, ist das doch schön und gut. Mal abgesehen davon, dass Daniel Höhr seit 30 Jahren Konzerte gibt, ausgiebigen Privatunterricht genossen hat, eine eigene Einspielung vorweisen kann und 2021 eine 16-stündige Solo-Performance der Vexations von Erik Satie absolvierte. Dann bitte, braucht niemand mehr darauf hinzuweisen, dass er kein Stück Papier von einer Musikhochschule in Händen hält. Das ist so deutsch!

Den Abstand zu einem Dietmar Bonnen bemerkt das Publikum schon ganz allein. Der Kölner Komponist, Dirigent und Produzent überzeugt bei der Darbietung seiner Improvisation drei mit einer unglaublichen Souveränität, die er mit seiner angedeuteten Interpretation eines David-Bowie-Songs noch unterstreicht. Ein großartiger Auftritt. Mit dem Gespräch mit Gurol, das im Programm steht, kann er wenig anfangen. Und obwohl er sich sehr um Empathie bemüht, kommt die Hilflosigkeit auch beim Publikum an, in dem sich allmählich ein wenig Unruhe bemerkbar macht. Zu dieser Zeit sind bereits drei Stunden vergangen. Violina Petrychenko bekommt nun Gelegenheit, ihr Debüt beim Beethoven Piano Club zu feiern. Sie hat die drei Bagatellen von Valentin Silvestrov, einem ukrainischen Komponisten, ausgewählt. Die überfordern sicher keine Pianistin wie Petrychenko, der zudem die ukrainische Klaviermusik ein Herzensanliegen ist. Und jeder hat mal gute und nicht so gute Momente, aber Petrychenko hat hier einen ihrer besten Momente überhaupt. Ihr Vortrag ist hinreißend und gehört definitiv zu den Höhepunkten des Abends. Auf ihren Alben sind die Bagatellen nicht zu finden. Da besteht definitiv noch Nachholbedarf.

Violina Petrychenko – Foto © O-Ton

Arbeitnehmer haben sich zu diesem Zeitpunkt längst die Zähne geputzt und die Bettdecke aufgeschlagen, weil sie am nächsten Morgen wieder früh rausmüssen. Auch einige der älteren Besucher nutzen die zweite Pause, um den Abend endlich zu beenden – und das, obwohl Kessel ausgerufen hat, dass der dritte Teil des Abends „nur noch“ eine halbe Stunde dauere. Stimmt nicht und war auch abzusehen.

Michael Klevenhaus erzählt zu Beginn des dritten Teils eine lange Geschichte über gälische Musik und ihren Bezug zu Beethoven. Er macht das großartig, und seine Darbietung von Mo mhallachd air na caoraich mhòr ist wirklich hörenswert. Aber ein solch wortgewaltiger Beitrag lässt einen um diese Stunde in den Status „Kommen wir irgendwie zum Ende?“ umschalten. Das bemerkt auch Markus Schimpp, der anschließend aus seinem musikalischen Hörbuch für Sprecher und Pianist Morgenstern vier Stücke vorträgt. Da kommt erst das Gedicht zu Gehör, dann wird noch ein Stück Musik hinterhergeschoben, das der Besucher nun gedanklich in Einklang bringen soll. Warum das Wort nicht von Musik unterlegt wird, erfährt er nicht. Und das ist nicht mal im Sinne der Zeitökonomie gemeint.

Ein letztes Mal tritt – ungeplant – Gurol auf, um ein weiteres Stück aus den sechs Bagatellen von Ludwig van Beethoven vorzutragen. Weil der nun noch gar nicht zu Wort gekommen sei. Ursprünglich war das Stück wohl als Zugabe geplant. Ein wirklich schönes Stück. Hans Lüdemann darf also nun den Abschluss des Abends übernehmen. Der sympathische Jazz-Pianist macht nur einen einzigen Fehler. Er kündigt an, Improvisationen zu lieben. Nicht auch das noch. Nervös geht der Blick zur Uhr. Nach vier Stunden kommt auch der virtuose Vortrag von Lüdemann zum Ende. Und man fühlt sich auch noch ungerecht, weil man kaum noch die Geduld für Das alte Leck, Monumenti X und eine weitere Bagatelle aufbringt, so gelungen und humorvoll die Darbietung auch ist.

Mit An- und Abreise im tempogedrosselten Bonn ist damit fast ein Arbeitstag vergangen. Um ein Konzert zu besuchen. Mitten in der Woche. In einer Zeit, in der die Geduld des Publikums gerade mal noch für eine bis anderthalb Stunden reicht, ist das mutig. Ob sich der Mut auszahlt, darf bezweifelt werden. Ein Blick auf die Vorschau kommender Konzerte zeigt weitere wirklich interessante Namen. Ob Kessel auf das „(u.a.)“ in der Vorankündigung bestehen will, muss sie entscheiden. Publikumsorientiert ist das nicht. Dabei darf man ihr wünschen, dass ihr Format von Erfolg beschieden ist. Denn Atmosphäre, Inhalte und Ideen stimmen. Auch wenn man es in kürzere Worte fassen könnte.

Michael S. Zerban