O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dana Schmidt

Aktuelle Aufführungen

Beste Werbung für moderne Musik

1920 – 2020: ZWISCHEN ALLEN KULTUREN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
12. März 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr, Bochum

Das diesjährige Klavier-Festival Ruhr – kurz KFR – startet offiziell zwar erst am 24. April. Doch schon sechs Wochen vorher präsentiert es einen Sondertermin, der wohl in dieser Art seinesgleichen sucht. Denn an zwei Tagen gibt es im Bochumer Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr fünf Konzerte mit rund zehn Stunden Musik, in deren Verlauf als Querschnitt die Musikliteratur für Klavier solo aus dem 14. Jahrhundert bis heute zu erleben ist. Jede Veranstaltung wirft ein Licht auf einen Zeitraum von 100 Jahren. Für diese Zeitreise von 500 Jahren zeichnet der international renommierte Pianist Kit Armstrong verantwortlich, der damit zum 18. Mal beim Festival zu Gast ist. Jedem der von ihm zusammengestellten fünf Programme hat er ein Motto vorangestellt: „Das Goldene Zeitalter“, „Kontraste“, „Aufklärung“ und „Visionen“ sind die ersten vier.

Bei dem finalen Konzert heißt es Zwischen allen Kulturen. Der Titel passt. Denn es wird Musik kulturell und stilistisch unterschiedlicher Herkunft vorgestellt. In seinen Moderationen beschränkt sich Armstrong auf allgemeine Zusammenhänge und Entwicklungen der letzten 100 Jahre. Etwa sind die tradierten Kompositionstechniken nicht mehr rein zielorientiert, wenn etwa andere Stile wie die Gamelan-Musik mit einfließen. Musikalische Horizonte werden erweitert. Jazz und Klassik wie bei George Gershwin befruchten sich gegenseitig. Die Weltoffenheit im 20. Jahrhundert kommt auch in der Musik groß zum Tragen. Die Musik ist pluralistisch geworden. Nur über die Werke und unbekannte Komponisten gibt es keine Erläuterungen. In diesem Zusammenhang lassen er und das Programmheft das Publikum allein.

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So dürfte der polnisch-amerikanische Pianist und Komponist Leopold Godowsky, der von 1870 bis 1938 lebte, eher in Fachkreisen bekannt sein. Zu seinen Lebzeiten war sein Name als Pianist wegen seiner unzähligen Tourneen in den Vereinigten Staaten, Mittel- und Südamerika, Deutschland, Österreich-Ungarn, in den fernen Osten, Russland und als Professor an der k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien sehr bekannt. Diesen ausgezeichneten Ruf, der etwa mit dem Sergei Rachmaninows gleichgesetzt wird, erlangte er als Komponist jedoch nicht. Fast ausschließlich Klaviermusik schuf er. Denn viele von ihnen und etliche Bearbeitungen seien überladen. Auch blieb ihm nach dem Ersten Weltkrieg die Moderne fremd. Seine Java-Suite, ursprünglich als Phonoramas – Tonal journeys for the Pianoforte veröffentlicht, ist eine zwölfsätzige Suite. Sie ist inspiriert von der besagten Gamelan-Musik Javas in Indonesien, wo er einmal auf Konzertreise war. Ausschließlich pentatonische Harmonien werden verwendet. Daraus stellt Armstrong die zehnte Nummer mit dem Titel In the Kraton vor. Kraton ist eine große Umfriedung in der Mitte von Hauptstädten, in der die Herrscher ihre Paläste haben. Dort leben Adelige, Konkubinen, Sklaven, Hofbeamte, Künstler und Handwerker. Musikalisch geschildert wird ein Abend im Orient mit malerischen Szenen.

So gut wie unbekannt ist wohl Kaikhosru Shapurji Sorabji. Er lebte von 1892 bis 1988 und war ein britischer Komponist, Pianist und Musikkritiker parsischer Herkunft. Der Individualist hatte kein leichtes Leben. Er fühlte sich wegen seiner gemischten Abstammung und seiner Homosexualität von der englischen Gesellschaft entfremdet. Überwiegend führte er ein abgeschiedenes Leben. Als Komponist war er ein Autodidakt und musikalischer Außenseiter. Beeinflusst war er etwa von Ferruccio Busoni und Claude Debussy. Sein Stil verbindet barocke Formen mit Polyrhythmen. Tonale und atonale Elemente gehen Hand in Hand. Kennzeichen ist auch seine üppige Ornamentik. Hinzu kommen oft extreme zeitliche Ausmaße und extreme spieltechnische Anforderungen. Seine harmonische Sprache und seine komplexen Rhythmen nahmen Tonschöpfungen ab Mitte des letzten Jahrhunderts vorweg. Bis in die frühen 2000-er Jahre blieb seine Musik unveröffentlicht. Erst allmählich wächst das Interesse daran mehr und mehr. Sein klaviermusikalisches Schaffen ist immens. Seine 100 Transcendental Studies sind eine Reihe von 100 Klavieretüden, die stark in Stil, Charakter und Länge zwischen einer Minute und 45 Minuten variieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sorabji sie mit Franz Liszts Études d’exécution transcendante vergleichen wollte. Die von Armstrong ins Programm genommene Nummer 26 ist für die linke Hand komponiert und besticht durch schnelle Änderungen in Textur und Stimmung sowie extremen technischen Herausforderungen. Außerdem kommt aus den Three Pastiches for Piano das auf Deutsch Lied des hinduistischen Kaufmanns aus Rimsky-Korsakows Oper Sadko zu Gehör.

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Andere präsentierte Komponisten und deren Werke sind bestimmt geläufiger, allen voran Sergei Rachmaninows Variationen über ein Thema von Corelli. Neu an dieser Variationsform ist die Kombination mit der dreiteiligen Sonatenhauptsatzform und anschließender Coda. Das kleine Klavierstück Für Alina markiert einen Schritt Arvo Pärts hin zum neuen Stil der Schlichtheit mit beispielsweise einfachsten Melodiezügen und glockenartigen Klängen: sein unverwechselbarer „Tintinnabuli-Stil“. Bekannt ist sicherlich Tōru Takemitsus Stück Rain Tree Sketch II mit seiner Verbindung von japanischen und europäisch-neuzeitlichen Stilen. Von den 18 Etüden György Ligetis, die mit zu den bedeutendsten Klavierstudien des 20. Jahrhunderts gehören, spielt Armstrong Arc-en-ciel und Der Zauberlehrling. Außerdem sind die Nummern sieben und acht aus seiner elfteiligen Klaviersammlung Musica ricercar mit dabei. Ausführlich erklärt Armstrong Études de dessin aus seiner eigenen Feder. Und fünf Titel George Gershwins wie The Man I Love, Swanee und I Got Rhythm sind bekanntlich Evergreens.

Die insgesamt 16 Stücke mit ihren mannigfaltigen Tonsprachen von reiner Tonalität bis hin zu äußerst komplexer, rhythmischer Atonalität führt Armstrong – abgesehen von kleinen Unsauberkeiten ganz zu Anfang des Konzerts und bei sehr wenigen halsbrecherischen Stellen – jeweils wie aus einem Guss auf. Dabei ist stupende hochvirtuose Klaviertechnik nie Selbstzweck. Vielmehr steht sie ganz im Dienst des musikalischen Ausdrucks. Tief ausgelotet kommen die teils nicht leicht zugänglichen Werke von der Bühne. Dank seiner sensiblen Anschlagskultur werden sämtliche Strukturen klar und durchsichtig zum Ausdruck gebracht.

So wundert es nicht, dass aufgrund des hochmusikalischen, tiefgründigen Klavierspiels, das beste Werbung für moderne Musik ist, Armstrong mit langanhaltenden, stehenden Ovationen gefeiert wird. Sie ebben erst dann ab, als der Wunsch nach einer Zugabe erkennbar nicht erfüllt wird.

Hartmut Sassenhausen