O-Ton

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Foto © Matthias Baus

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Ehekrise wird zur Action-Komödie

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Gesehen am
1. April 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Staatsoper Unter den Linden, Berlin

Eigentlich sollte die Premiere als Pilotprojekt für ein Konzept mit negativ-getestetem Publikum dienen. Bedingt durch die wieder angestiegenen Covid-Inzidenzraten wurde dieser Plan verworfen.  Also doch „nur“ ein Live-Stream online, allerdigs nicht nur auf der Webseite der Staatsoper, sondern auch auf den Bezahlplattformen von Medici.tv and Mezzo.tv wie auch eine Audio-Übertragung beim Hörfunksender RBB Kultur. Da erkennt man, wie viele Kultureinrichtungen versuchen, ihre Publikumsreichweite mit Online-Lösungen zu halten und sogar zu erweitern.

Diese Produktion ist auch der Auftakt zu einem neuen Mozart-Da-Ponte-Zyklus mit Daniel Barenboim als Dirigent und Vincent Huguet als Regisseur. Così fan tutte und Don Giovanni folgen in der Saison 2021/22. Wie beliebt Mozart ist und bleibt, belegt die Tatsache, dass dieser Figaro die dritte Neuproduktion an der Staatsoper Unter den Linden seit 1990 ist.

Huguet siedelt seinen Figaro in den späten 1980-er Jahren an und definiert ihn als Ehekrisen-Actionkomödie. Eine multifunktionale Küche mit einer großen Theke dominiert den ersten Akt. Die dient als Fitnessfläche, auf der Susanna Liegestütze macht, während Figaro sie abzählt. Es gibt drei Ebenen, auf denen sich die Handlung abspielt – unter der Theke, auf der Theke und hinter der Theke auf der Treppe, die direkt in einen Innenhof führt. Bühnenbildnerin Aurélie Maestre fängt andalusisches Flair ein, bis hin zu den mit Trencadis –der von Gaudí so geliebten Porzellanscherben-Technik – verzierten Pflanzgefäßen. Graf Almaviva ist Musikproduzent, der seinen Popstar Rosina geheiratet hat – eine Debby-Harry- alias Blondie-Schönheit – deren Porträts im Andy-Warhol-Stil nebst Platin-Schallplatten sein Büro schmücken. Ehekrise hin oder her, probiert der Graf doch eine Versöhnung zum Ende des dritten Aktes anzubandeln. Es gelingt ihm nicht. Rosina ist not amused. Auch nicht mit seinem reumütigen Bekenntnis Contessa, perdona im vierten Akt. Im Gegenteil, er ist der einzige, der am Ende alleine da steht – die Gräfin eilt mit Cherubino davon.

Die Kostüme von Clémence Pernoud spiegeln den damaligen chic de chic – Lurex, Neonpink, Leopardenmuster, übergroße Blazer und Cowboystiefel – eine bunte Mischung aus Plüsch und Polyester.

Die jungen Darsteller erweisen sich als begeisterte Spielkünstler. Alle Verwechslungs- und Verkleidungsszenen werden mit sichtlichem Vergnügen zum Leben erweckt, mit Sinn auch für die konterkarierenden Nuancen und die doppelzüngigen Seitenhiebe in den Ensemblestücken.

Allen voran die Damen: In der ersten großen Arie der Gräfin, Porgi amor, passt der leicht metallische Sopran von Elsa Dreisig zum Image des Popstars.  Dagegen ist ihre Klage über verlorene Liebe, Dove sono, zeitlos schön. Susannas weiche Darbietung von Deh, vieni, non tardar, oh gioia bella täuscht über die Wirrungen des letzten Aktes hinweg, den Vincent Huguet mit Hilfe von Tiermasken zu einer Sommernachts-Sexkomödie in Anlehnung an Shakespeare deutet. Nadine Sierra nimmt sich Zeit, um ihre wahren Gefühle mit ihrem dunkel timbrierten, glühenden Sopran, ihrer Vitalität und ihrem natürlichen Spiel auszudrücken. Viel Beifall hätte es auch gegeben, wenn Sierra und Dreisig auf der Bühne am Cembalo sitzen und ihre Stimmen beim Schreiben der Depesche an den Grafen wunderschön harmonieren, genau, wie es in der Musik steht. Katharina Kammerloher – sie war auch die Marcellina im letzten Figaro der Staatsoper in der Regie von Jürgen Flimm – bringt fabelhaftes Buffo-Talent mit, wenn sie sich mit Lockenwicklern in die verrückte Verdrehung der Handlung stürzt und zugibt, Figaros Mutter zu sein. Emily d’Angelo ist ein burschikoser Cherubino, der rührend zwischen den Geschlechtern wandelt, und Liubov Medvedeva ist ein niedlicher Rosina-Popstar-Groupie. Stehen die Frauen wirklich am Rande des Nervenzusammenbruchs, wie Huguet uns glauben machen will? Nein, in diesem Labyrinth der Identitäten kennen sie ihren Weg.

Der Bariton Gyula Orendt verkörpert einen Grafen mit cholerischen Anfällen, der sich in der Midlife-Crisis in einen glaubhaft sensiblen Macho verwandeln kann. Riccardo Fassis Figaro ist ein junger Mann voller Ungeduld und gekränktem Stolz, der mit seiner Männlichkeit hadert, was vielleicht noch deutlicher wird dank seines hellen Baritons. Stephan Rügamer gibt einen Bartolo voller einstigen Pomps, ein guter Gegenpart zu Marcellinas Hysterie. In einem Cameo-Auftritt spielt niemand Geringeres als Siegfried Jerusalem einen Don Curzio, der von der Wendung der Ereignisse und den vertauschten Identitäten leicht überwältigt ist.

Die Staatskapelle unter Daniel Barenboim gibt Mozart mehr als genug Entschlossenheit. Barenboim führt sie klar durch die Turbulenzen der libidinös verstrickten Charaktere. Er kommuniziert dem Publikum und den Musikern deutlich seine Liebe zu Mozart.

Übrigens sei bemerkt, dass fast alle Sänger der Hauptrollen – Elsa Dreisig, Nadine Sierra, Emily D’Angelo – Preisträger beim Neue-Stimmen-Wettbewerb der letzten Jahre sind. Hinzu kommt David Ostrek, der in die Endrunde 2015 dabei war, und Siegfried Jerusalem war jahrelang Jurymitglied.  Nicht zuletzt sind Gyula Orendt und Liubov Medvedeva Stipendiaten der Liz-Mohn-Stiftung im Opernstudio der Staatsoper. Das spricht für die hohen Kriterien des Wettbewerbs und für das fortwährende Engagement der Bertelsmann-Stiftung in der Unterstützung junger Talente.

Vincent Huguet erklärt, dass diese Oper Teil zwei einer Trilogie der Befreiung ist. Wir können uns auf seinen ersten Teil Così fan tutte freuen, in dem es um Jugend und Initiation geht, und auf Don Giovanni, der uns im dritten Teil in der nächsten Saison die Perspektive der Reife bis zum Tod bietet.

Zenaida des Aubris