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Fakten zur Aufführung 

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK
(Grigori Frid)
15. Oktober 2015
(Premiere)

Theater Magdeburg, Podiumbühne


Points of Honor                      

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Gegen das Schweigen und Vergessen

Nicht den Mut verlieren. Die Starken werden standhaft sein. Es ist eine der allerletzten Aufzeichnungen aus dem Tagebuch der Anne Frank, bevor das jüdische Mädchen und ihre Familie in ihrem Versteck unterm Dach von der Gestapo im besetzten Holland entdeckt, verhaftet und deportiert wurden. Diese Zuversicht, diese Hoffnung auf ein freiheitliches Leben nach dem Krieg steht wie ein Bekenntnis auch am Schluss der Mono-Oper Das Tagebuch der Anne Frank von Grigori Frid. Der sowjetische Komponist hat 1969  unter Verwendung von nahezu unveränderten Passagen aus dem Tagebuch  des jungen Mädchen, das von ihr im Versteck l zwischen dem  6. Juli 1942 und dem  4. August 1944 geführt wurde, vertont und für Klavier instrumentiert. Das Ergebnis ist ein erschütterndes Dokument über den Holocaust. Das Stück ist Mahnung und Mythos des Leidens. Und es ist über das Einzelschicksal von Anne und ihrer Sehnsucht nach dem Leben in Freiheit auch die Thematisierung des Lebens im Nationalsozialismus, die ständige Bedrohung im Versteck, die Angst vor der Entdeckung und Verhaftung. In den knappen Szenen, die die datierten Tagebucheintragungen minimalistisch bebildern, erschließt sich die Persönlichkeit der 13-Jährigen. Durch die ungemein expressive Musik unterstützt, wird man Teil dieser Persönlichkeit, teilt ihre Freude über die Puppe, ein Stück blauen Himmels beim Blick aus dem Dachfenster, den Blumenstrauß oder wenn sie Nachbarn nachahmt. Man ist betroffen über die nackte Angst um das Leben, wenn das Haus durchsucht und das Versteck beinahe entdeckt wird. Man ist berührt, wenn Anne in ihrem Tagebuch über die aufkeimende Liebe zu Peter schreibt. Man ist ebenso berührt, wenn in den Monologen von Anne die Charaktere der Personen, die nicht real erscheinen, wie der Vater, die Mutter, die Schwester Margot und ihre Freunde charakterisiert werden.

Sebastian Gruner hat für diese Kammeroper die bedrückende Enge der Podiumbühne mit ihren knapp 70 Plätzen gewählt. Nicht ohne Grund, denn die Zuschauer werden zu unmittelbar Beteiligten. Sie sind um ein kreisrundes Podest platziert, das Spielort ist. Symbolhaft  im Hintergrund  die drehbare Bücherwand, die den Eingang zum Versteck verstellt und ein Fensterrahmen für die sehnsuchtsvollen Blicke zum blauen Himmel. Die Ausstattung von Susann Stobernack ist funktional und angemessen. Gruner setzt in dieser minimalistischen Szenerie auf Effekte, wenn zum Beispiel bei der Razzia SS-Schergen als Schattenbilder erscheinen und auf der rückwärtigen Front der Bücherwand die SS-Runen latente Gefahr signalisieren.

Die Aufführung wird geprägt durch die junge Sängerin Irma Mihelič in ihrer ersten Rolle in Magdeburg. Sie verleiht dem jungen Mädchen in einer fulminanten Leistung authentische Züge. Ihr intensives Spiel, vor allem Gestik und Mimik unterstützen ihren einfühlsamen Gesang. Fast kindliche Freude, Liebessehnsucht, Todesahnungen, panische Angst bei der Razzia, Freude und Hoffnungen vermittelt die mehrfach als „Nachwuchssängerin des Jahres 2015“ nominierte Sängerin. Mit Anne Grinberg am Klavier hat die Mihelič eine kongeniale Partnerin, die sehr subtil auf jede Nuance, auf jede Gefühlsregung, auf jede Stimmung durch die Dramaturgie ihrer Klavierbegleitung reagiert. Und so wird das Musikalische zu einer zweiten Erzählebene. Am Ende steht Anne Frank auf dem Podium. Sie zeigt stumm ein Foto aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. Auf der Rückseite dann das Foto des 13-jährigen, fröhlichen, lebenslustigen Mädchens Anne, das um die Welt ging. Anne Franks Vater überlebte als Einziger das Inferno und machte das Tagebuch der Öffentlichkeit zugänglich.

Augenblicke des Schweigens nach den letzten  Takten der Musik. Dann langanhaltender Beifall – erst  zögerlich-betroffen, dann aber umso heftiger. In den nächsten Wochen haben Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, diese ganz besondere Form der Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit zu erleben.

Herbert Henning

 







Fotos: Nilz Böhme