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Fakten zur Aufführung 

TAGEBUCH EINES VERSCHOLLENEN
(Leoš Janáček)
LA VOIX HUMAINE
(Francis Poulenc)
7. November 2014
(Premiere)

Staatsoper Berlin,
Werkstatt Schiller-Theater


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Chuzpe einer Collage

Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss schaffen 1911, unmittelbar nach ihrem grandiosen Rosenkavalier-Projekt, mit Ariadne auf Naxos den damals modernistischen Typus einer opera semiseria, die den ernsthaften Stoff der Ariadne-Sage mit Anleihen an das Buffo-Singspiel kombiniert. Die Melange aus zwei sich eigentlich ausschließender Stilwelten erobert sich spätestens nach der Uraufführung der umgearbeiteten Fassung 1916 in Wien die Bühnen der Welt. Dabei knüpft das Werk indirekt an den universalen Erfolg der Zauberflöte an, die Schikaneder und Mozart aus der Verschmelzung des Konträren geschöpft haben. Der Mix etabliert sich als Geniestreich des Artifiziellen.

Scheinbar auf ähnlich kühnen Pfaden bewegen sich die Regisseurin Isabel Ostermann, der Dramaturg Detlef Giese und der Musiker und Repetitor Günther Albers jetzt in Berlin. Für die Staatsoper, konkret die Spielstätte Werkstatt am Ausweichquartier Schillertheater, verweben sie Stücke von zwei Komponisten des 20. Jahrhunderts mit extrem unterschiedlicher kultureller und musikalischer Sozialisation zu einer Collage: den Einakter La voix humaine von Francis Poulenc und den Liederzyklus Tagebuch eines Verschollenen für Tenor, Alt, drei Frauenstimmen und Klavier von Leoš Janáček. Der Clou: Während Poulencs Tragédie lyrique in der Regel mit einem anderen Stück des Musiktheaters kombiniert wird – in Kassel in der letzten Spielzeit mit Herzog Blaubarts Burg und beide Werke nacheinander zur Aufführung gelangen – leisten sich die Berliner Theaterleute die Chuzpe, beide Werke in einem permanenten Crossover so zu vernetzen, als wären sie eines. Zusammengehalten wird diese Collage der milden Willkür durch Albers, der als Musikalischer Leiter und zuallererst als vehement geforderter Pianist agiert.

Von den Theatermachern wird die wechselseitige, symbiotische Durchdringung und Verschmelzung beider Stücke dramaturgisch durch die inhaltliche Gleichartigkeit des jeweiligen Sujets legitimiert. Beide Kompositionen schildern in der Tat die Ausweglosigkeit des Einzelnen auf der ewigen, einmal mehr vergeblichen Suche nach Liebe, die Verzweiflung von gestrandeten seelischen Existenzen, aufbegehrend, resignierend, verlöschend. In Poulencs Ein-Personen-Oper auf ein Drama von Jean Cocteau, uraufgeführt 1959 in der Pariser Opéra Comique, ist es der telefonische Monolog einer von ihrem Geliebten verlassen Frau, die ihn anfleht, seine Entscheidung rückgängig zu machen. In Janáceks Liederzyklus auf zunächst anonym gebliebenen Poèmes des mährischen Volksdichters Ozef Kalda, uraufgeführt 1925 in Brünn, ist es der Bauernsohn Janek in seiner prekären Liebe zu dem Zigeunermädchen Zefka. Als er von dessen Schwangerschaft erfährt, setzt er alles auf eine Karte, verlässt über Nacht Familie und Heimatdorf, um sich den reisenden Roma anzuschließen. Janeks Aufzeichnungen, eben jenes Tagebuch des Hoffens und Bangens, der Empathie und der Skepsis, das die Eltern in seinem verlassenen Zimmer finden, sind der Stoff, aus dem der schon bald 70-jährige Komponist seine dritte Partitur für das Musiktheater formt. Mit wachsender Faszination von diesen Zeugnissen eines so anderen Lebens, wie überliefert ist.

Ostermann begründet das Konzept des Doppelabends so: „Obwohl jedes Stück zunächst für sich steht und in sich abgeschlossen ist, haben wir uns dafür entschieden, sie miteinander zu verschränken, indem mal die eine, mal der andere in den Fokus rückt.“ Im Interview mit dem Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg vor der Premiere hat die Regisseurin auch von einem Experiment der Materialauswahl gesprochen und das so entstehende Neue als eine „spannende“ Erfahrung für das Künstlerteam gerechtfertigt. Wenn das Kriterium eines „spannenden“ Abends bereits hinlänglich ausreichend dafür sein soll, im Zuge der Transformation divergierender Stoffe sich an der DNA eines Stückes zu vergreifen, so dürften ähnlich rigorose Experimente schon alsbald das Musiktheater beglücken. Lassen sich nicht auch Strecken aus diversen Werken Bellinis, Puccinis und Verdis verschränken, weil hier – zwei Opern, eine Idee – eine Frau zwischen zwei Männern steht und untergeht? Der Sopran paradigmatisch zwischen Tenor und Bariton? Wäre es nicht reizvoll und vermutlich „spannend“, Teile aus Rossinis Maometto Secondo mit seiner Messa di Gloria zu mixen, weil sie beide aus demselben Jahr 1820 stammen und ihnen etwas Transzendentes anhaftet?

Um Transzendenz geht es in der musikalischen Dimension des „Doppelabends“ ganz und gar nicht. Brutal, rigide, schneidend, das Publikum phasenweise stressend, kommt sie bei Janáček daher. Leichter, geschmeidiger, opernaffiner, verspielter, letztlich fasslicher bei Poulenc. Zu unterschiedlich sind auch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die beiden Hauptakteure ihre Lebenskrise erfahren und ihr Schicksal bestimmen müssen. Ob die durch das Klavier strukturierte Synthese zweier Kompositionswelten als eine neuartige Einheit begriffen werden kann, wird sich pauschal und leichthin nicht sagen lassen. Erstaunlich, dass sich die Sprünge zwischen den Partituren nicht immer gleich als massive Zäsuren einstellen. Panta rhei, alles fließt, heißt es in der griechischen Philosophie, so auch bei diesem Experiment. Und doch hat das Ganze seinen Preis. Wäre die Rede von Konsumgütern, käme wohl das Stichwort von der Markenverletzung auf. Wird da in der Werkstatt wirklich, um bei der Oper zu bleiben, La Voix Humaine von Poulenc, aufgeführt, also eine „Marke“ des Musiktheaters im vergangenen Jahrhundert? Oder ein Torso? Oder was sonst auf dem Prokrustes-Bett heutiger Adaptionen, genannt Regietheater?

Das Publikum lässt zu keinem Zeitpunkt spüren, dass das Konzept nicht funktionieren könnte, was aber zunächst auch nicht mehr als eine Beobachtung ist. Einen großen Anteil haben dabei der spezielle Raum der Werkstatt und die Ausstattung, die Stephan von Wedel der Szene hat angedeihen lassen. Die Wände sind mit schmutzig-dunkler Pappware drapiert. Im Zentrum bilden zu kleinen Häusern zusammengenagelte Balken aus Holz, sparsam möbliert mit Tisch und Stuhl, den Schauplatz der Doppelhandlung, auf dem sich „die Eine“ und der „Andere“ bewegen. Immer sind sie ungeachtet der Enge ohne Kontakt, ohne Kommunikation, scheinbar nah und doch aussichtslos voneinander distanziert. Zwischen dem hölzernen Geviert des Zentrums und den Wänden einer Außenwelt ohne Hoffnung hocken die Zuschauer auf Holzbänken ohne Lehnen, als wollten oder müssten sie das physische Verzehren der Protagonisten so vielleicht noch intensiver verspüren. Der Pianist und sein Instrument sind seitlich untergebracht, auf halber Höhe, wie in eine kleine Nachbarwohnung eingelassen. „Unmittelbarkeit und Direktheit des musikdramatischen Ausdrucks“ sind für Ostermann die Vorzüge der Werkstatt in dieser Inszenierung. Sie erzeuge dadurch „eine punktgenaue Mimik und Gestik, da eben keine meterweite Distanz über den Orchestergraben hinweg überwunden werden muss“. Ähnliche Effekte sind Zuschauern bei Boxkämpfen geläufig, speziell aus den ersten Reihen direkt am Ring. Aber dort gibt es die Halle, in die der Blick ausweichen kann. Hier, in der Werkstatt, gibt es kein visuelles Entrinnen, nur Grenze, Begrenzung, Abschirmung. Erhellend auf dieser Reise in die Seelenlandschaften von Gequälten, weil kompatibel zum Geschehen. Oder schlicht bedrückend, weil das Leben immer determiniert ist und die Liebe per se.

Die Sänger, der Mezzosopran Carolin Löffler in seiner Doppelrolle und der Tenor Benedikt Kristjánsson im Janácek-Liederzyklus, agieren schlicht großartig. In Tschechisch und Französisch, den Sprachen der Originalstücke, singen die Deutsche und der Isländer, auch das eine beachtliche Leistung. Beide durchwandern – buchstäblich in ihren Holzhäuschen und stimmlich in ihren Partien – das gesamte Spektrum menschlicher Ausdrucksformen, vom zarten innigen Schmelz der Erinnerung bis hin zum grellen Aufschrei angesichts der Ausweglosigkeit. Einige sinfonische Fetzen und eine winzige Passage eines Vokalterzetts werden von außen eingespielt. Diesen Part haben Caroline Seibt, Lena Haselmann und Verena Allertz übernommen. Das Publikum, von relativ jung bis älter, quittiert die Leistungen der Künstler mit anhaltendem Jubel, der in dem engen Raum der Werkstatt besonders intensiv wirkt. Dann ist er verhallt. Kein Vorhang fällt, und doch bleiben viele Fragen offen.

Ralf Siepmann

Fotos: Vincent Stefan