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Fakten zur Aufführung 

LETZTE TAGE. EIN VORABEND
(Christoph Marthaler)
5. September 2014
(Premierre am 2. September 2014)

Staatsoper Berlin


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Es kann wieder geschehen

Zum glanzvollen Auftakt der neuen Spielzeit der Staatsoper im Schillertheater kommt Anna Netrebko. Sie singt beim alljährlichen Benefizkonzert der Staatskapelle zugunsten der Sanierung des Opernhauses unter den Linden, das in der Philharmonie stattfindet, erstmals die Vier letzten Lieder von Richard Strauss. Am Pult steht Daniel Barenboim, der auch die neue Tosca im Oktober leiten wird. Die erste szenische Premiere zwei Tage später bietet jedoch keinen Glamour und keine Stars. Und sie ist auch keine Eigenveranstaltung. Christoph Marthalers als Projekt bezeichnete Letzte Tage. Ein Vorabend, das für fünf Tage ins große Haus eingezogen ist, entstand als Koproduktion mit dem Pariser Festival d’Automne und den Wiener Festwochen, bei denen es 2013 seine Uraufführung erlebte. Sie fand im prunkvollen historischen Sitzungssaal des Wiener Parlamentsgebäudes statt, der seit 1861 viele wichtige politische Versammlungen erlebte. Nun benutzt ihn Marthaler als Spielstätte für ein bitterböses Stück über Rassismus und Antisemitismus, mit dem der Autor und Regisseur zugleich an das Schicksal jüdischer Komponisten, die im dritten Reich verfolgt und ermordet wurden, erinnert.

In der Berliner Staatsoper hat Marthaler das Geschehen in den Zuschauerraum verlegt, während das Publikum auf einer auf der Bühne errichteten Tribüne sitzt. Ein Trupp von Reinigungsfrauen säubert die Reihen, dieweil zarte Klaviermusikfetzen ans Ohr dringen. Dann füllt sich der Saal mit jenem tristen Personal, das für Marthaler so charakteristisch ist: Diesmal sind es Staatsmänner und -frauen, hinter deren Fassade Abgründe lauern, wenn sie im Laufe der Veranstaltung wilde und bestürzende Reden über Fremde und Andersartige schwingen. Ausgangspunkt ist ein nicht näher definierter Gedenktag in der Zukunft, der an Zeiten erinnert, als es noch Juden gab. Mittlerweile, erzählt der Präsident in seiner Eröffnungsansprache stolz, wurde der Antisemitismus zum Weltkulturerbe erklärt. Was folgt, ist eine Collage von meist dokumentarischen Texten aus der Politik und Gesellschaft Österreichs, in denen sich rassistisches Gedankengut in übelster Weise breit macht, das durchaus auf andere Nationen übertragbar ist. Unfassbar sind manche Formulierungen, und es bleibt einem ob der Ungeheuerlichkeit der Äußerungen das Lachen im Halse stecken. Nach diesen Hasstiraden wirkt es fast erleichternd, dass allmählich die Musik die Oberhand gewinnt. Wagners Siegfried-Idyll wird chorisch vorgetragen ebenso wie das Studentenlied Flamme empor. Doch dann richtet sich der Fokus auf Werke verfemter Künstler, die in einem kleinen Konzert gespielt werden. Erwin Schulhoff, Ernest Bloch und vor allem Viktor Ullmann heißen die Komponisten, aber auch Mendelssohn erklingt. Und wenn Michael von der Heide Hits vom russischen Tangokönig Pjotr Leschenko intoniert, spannt Marthaler den Bogen verfolgter Künstler bis in die Sowjetunion Stalins, wo Leschenko als Landesverräter inhaftiert wurde und im Lager starb.

Die Ensemblemitglieder, die in zahlreichen Produktionen Marthalers Ausdrucksstil famos verinnerlicht haben, schlüpfen in Letzte Tage in verschiedene Rollen. Ueli Jäggi begrüßt in unnachahmlich schmierigem Ton das Publikum und zitiert im Verlauf Ausschnitte aus Reden des ungarischen Ministerpräsidenten Orban über minderwertige Zigeuner. Katja Kolm gibt auf abstoßend-komische Weise das Interview einer FPÖ-Abgeordneten wieder, in dem sie voller Überzeugung von der genetischen Überlegenheit der weißen Rasse spricht. Bettina Stucky führt als ob der vielen Ausländer besorgte Mutter den alltäglichen Rassismus vor. Später wechseln die Mitwirkenden die Positionen und setzen sich als Zuhörer des Konzertes in den Rang. Am Ende bilden sie eine traurige Schar, die sich aus dem Saal schleppt, vielleicht sind es Juden auf dem Weg zur Deportation.

Sechs Musiker der Wienergruppe/Instrumentalisten, geleitet vom Dirigenten und Arrangeur Uli Fussenegger, bilden eine Kapellenformation, wie sie auch in Theresienstadt denkbar gewesen wäre. Dabei überzeugt nicht nur ihre hohe spielerische Qualität. Es stellt sich auch eine gespenstische Atmosphäre ein, weil die Imagination an die Wirklichkeit im Lager mitschwingt. Angesichts solcher Gedanken hinterlässt die Ankündigung von Ueli Jäggi vor der Vorstellung einen besonders bitteren Geschmack: Der Abend wird um zwei Musikstücke gekürzt, weil der Verlag Bote und Bock/Boosey & Hawkes erst jetzt festgestellt hat, dass die vorgesehenen Streichquartette von Simon Laks und Pavel Haas bearbeitet sind und in dieser Form nicht gespielt werden dürfen. Ob den Verantwortlichen bewusst ist, dass in Theresienstadt Kompositionen je nach Verfügbarkeit der Musiker eingerichtet wurden?

In der fast ausverkauften Staatsoper gibt es langen Applaus für diesen wichtigen, klug konzipierten Musiktheaterabend. Er lässt das Publikum nicht unberührt und sorgt noch auf dem Nachhauseweg für viel Diskussionsstoff.

Karin Coper

Fotos: Bernd Uhlig