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Fakten zur Aufführung 

LES NOCES - LE SACRE DU PRINTEMPS - L'OISEAU DE FEU
(Igor Strawinski)
18. Mai 2013
(Premiere)

Salzburger Pfingstfestspiele,
Großes Festspielhaus


Points of Honor                      

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Tanz

Choreografie

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Archaische, kraftvolle Tänze und Choreografien

Es ist kaum zu glauben, dass Le Sacre du printemps von Igor Strawinsky schon ziemlich genau 100 Jahre auf dem Buckel hat. Denn das 1913 bei der Uraufführung das Pariser Publikum schockierende und einen Theaterskandal provozierende Ballett wirkt heute noch kraftvoll modern, aber auch urwüchsig und archaisch erdig. Dieses Jubiläum und das Motto der diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele Opfer wurden zum Anlass genommen, um das effektvolle Frühlingsopfer, das heute meist ohne Ballett nur in den Konzertsälen aufgeführt wird, in die Programmatik aufzunehmen.

Mit ein Grund für den seinerzeitigen, beinahe vorzeitigen Abbruch war aber nicht nur die für das damalige Publikum schwer zu fassende und ultramoderne Musik Strawinskys, sondern auch die zu jener Zeit völlig neuartige und gewöhnungsbedürftige Choreografie von Vaslav Nijinsky. Jetzt ist es besonders reizvoll, dieses Stück Tanzgeschichte nach jahrelangen Forschungen in der von Kenneth Archer und Millicent Hodson rekonstruierten Originalchoreografie, wobei letzterer auch für die aktuelle Einstudierung verantwortlich zeichnet, im Großen Festspielhaus in Salzburg zu erleben: Bewegungsstil und -fluss sind bewusst gebrochen zugunsten stampfender rhythmischer Attacken, der Staccatopulsschlag von Musik und Tanz machen das Fallen gleich wichtig wie das Springen. Alles im typischen Nijinsky-Stil: Kopf und Füße im Profil mit geometrischen Armbewegungen kombiniert mit wilden Zuckungen. Die bis zu 52 Tänzer zählende Truppe des St. Petersburger Mariinski Theaters beeindruckt aber nicht durch Synchronität und Virtuosität, sondern durch archaische Kraft, ja urwüchsige Wildheit. Manches wirkt in dem Ballett, das eigentlich über keine genaue Handlung verfügt, speziell bei den Massenszenen sogar extrem unpräzise. Vor einer naiv gemalten Hügellandschaft weiß sich besonders die für den rituellen Todestanz als Opfer auserwählte Jungfrau Daria Pavlenko mit atemberaubend schnellen Bewegungen, Drehungen und Zuckungen bei diesen Szenen aus dem heidnischen Russland hervorzutun.

Das zentrale Element beim Sacre ist der Rhythmus, der mit einer derartigen Urgewalt kaum jeweils zuvor in der Musik so wirksam geworden ist und alles mitreißt. Das riesig besetzte Orchester des Mariinski Theaters unter ihrem radikal exakt schlagenden Chef Valery Gergiev, der diese Musik trotz ihrer unvorstellbaren und schwierigsten Komplexheit im kleinen Finger hat, wissen den wie auch die extreme Harmonik mit den dissonierenden Klängen und Akkordschichtungen wie ein Elementarereignis erklingen zu lassen.

Rhythmusorientiert ist auch das zuvor getanzte, selten gespielte Ballett Les noces – Die Hochzeitsfeier, ebenfalls ein Schatz aus den Rekonstruktionen der Ballets Russes, das typische Geschehen einer russischen Hochzeit inhaltlich beschreibend. Statt eines Riesenorchesterapparates kommt man hier mit vier Klavieren aus. Dafür gibt es ein enorm großes Schlagwerk, Gesangssolisten und einen Chor. Diese bewältigen die litaneiartigen, meist gemeinsam geführten Gesänge mit Bravour. Das durchgängige Pulsieren bei ständig wechselnden Metren werden von den Musikern unter Gergiev mit großer Präzision gespielt.

Vor einer sehr einfachen, gemalten Kulisse kann man wieder in der Originalchoreographie, diesmal von Bronislawa Nijinska aus 1923, die jetzt gezeigte Neueinstudierung erfolgte von Howard Sayette, perfekten Spitzentanz, virtuose Sprünge und Drehungen aber auch faszinierende Körperschichtungen erleben, die sich zu einem starken Schlussbild fügen, ohne dass jemand besonders solistisch hervortritt. Allerdings wirkt die Truppe mit ihren braunen Einheitskostümen wie aus einer kommunistischen Arbeiteridylle entlehnt.

Die legendären Ballets-Russes-Produktionen sind farbenfrohe Gesamtkunstwerke, deren Ausstattung von Malern des Expressionismus und der Avantgarde stammen. Hart an der Grenze zum Kitsch schrammt allerdings die Ausstattung des dritten Teils des Ballettabends L’Oiseau de feuDer Feuervogel, der den Weltruhm Strawinskys in Gang setzte, vorbei: Ein Zauberwald, eine bunte Märchenlandschaft mit üppigen Pflanzen, die mit suggestiven, farbenfrohen Lichtstimmungen ins rechte Licht gerückt werden. Dazwischen wird das Handlungsballett recht simpel erzählt, wobei besonders hier bei der klassischen Originalchoreografie aus 1910 von Michel Fokine, deren Rekonstruktion von Isabelle Fokin und Andris Liepa erfolgt ist, die Soloballerinas wie Alexandra Iosifidi als knallrot gewandeter Feuervogel sowie Ekaterina Mikhailovtseva als schöne Zarewna viel Spitze, tolle Sprünge und Drehungen zeigen dürfen, während der männliche Solist, wie früher durchaus üblich, in diesem Fall Alexander Romanchikov als Iwan Zarewitsch zum bloßen Gelingen der Hebefiguren degradiert wird und kaum selbst solistisch in Erscheinung treten kann. Soslan Kulaev ist ein böser Kaschtschej.

Die atmosphärisch dichten Phasen und die dynamischen Extremen vom kaum hörbaren Pianissimo zu Beginn mit den klanglichen, geradezu hymnischen Aufschwüngen bis zur Schlussapotheose werden vom Orchester des Mariinski Theaters unter Valery Gergiev effektvoll und mitreißend zelebriert.

Wiederum gibt es spontanen Jubel des begeisterten Publikums.

Helmut Christian Mayer

 

Fotos: Natasha Razina