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Wortloses Verstehen
Bert Brecht, Hugo Ball, Joseph Beuys und Christoph Schlingensief in einer himmlischen Loge müssten einander nur ansehen, um wortloses Verstehen zu signalisieren: Geht doch noch! Anspruchsvoll und ansprechend finden zusammen. Hier wird Geschichtsphilosophie zu Musik und Text. Theater bricht auf, im doppelten Sinn, transzendiert sich und das Publikum gleich mit. Und weil, wie auf einem der hochgehaltenen Transparente zu lesen, jeder Mensch ein Künstler ist, weil nichts von dem Aufgeführten weg muss, weil das Anarchische in jedem einen Rezipienten findet, muss man die gesungenen Texte nicht einmal verstehen. Dazu kommen Lautmalereien, Stöhnen und Wimmern, Grollen und Hecheln, Begleiter eines schmerzhaften Untergangs, Nachhall des Archaischen, Geburtswehen des Unbekannten. Ausgestoßen von den vorzüglichen Vieren: Nili Riemer, Sopran, Judith Braun, Alt, sowie Miki Stojanov und Markus Jaursch, die „Sprecher“. Wortloses Verstehen auch, weil Ton und Bild mehr sagen, als man bei einmaligem Operngenuss überhaupt aufnehmen kann. Dieses ungeheure Spannungsfeld mit Aufmischungen, Überschreitungen, Darstellen von Antinomien, dem Heraufbeschwören kultureller Wendezeiten, die Jetztzeit eingeschlossen, Verfremdungen, szenisch wie musikalisch. Letztere bis an die Grenzen des Zumutbaren, wenn man erst durch das Nichtenden immer wieder eingesprengter schriller Töne sicher wird, das sie gewollt und nicht Übersteuerungen und Rückkoppelungen geschuldet sind. Bei dieser mächtigen, hoch differenzierten, komplexen, eindringlichen und faszinierenden Musik gilt: Nur nicht einlullen lassen! Deshalb beschränken sich die Verfremdungen nicht auf das Darstellerische. Antonin Artaud, Urfassung, Wolfgang Rihm, Komponist und Librettist, und Regisseurin Inga Levant haben viel zu viel Achtung vor dem Publikum, um Konsumverhalten provozieren zu wollen, an diesem denkwürdigen und bedenkenswerten Abend im Staatstheater Saarbrücken in der hochwertigen und mutigen Reihe „Echtzeit“. Dabei, wenn das Blochsche Noch-Nicht intoniert wird, wenn im Eingangsteil Dräuendes, Zerstörerisches in der unheilschwangeren Luft liegt. Dem zugleich eine erotische Note anhaftet, die Erregung, die Neues in seiner Unentschiedenheit hervorruft. Männlich, weiblich, neutral, die hermeneutische Schlüsselfrage, die Die Eroberung von Mexico stellt und keineswegs auf die Einordnung von Mann und Frau beschränkt und keine Antworten gibt. Ein Werk, das der Adornoschen Verweigerung der Totalität Rechnung trägt.
Die Bühne - verantwortlich ist Roni Toren - gehört dem vorzüglichen Orchester. Ein spröder Raum mit dem Charme einer Turnhalle aus den 1960-ern. Auf der Empore eine Orgel, die die Kunstfigur Artaud zertrümmern wird, gespielt von Boris Pietsch. Der Schauspieler beherrscht nicht nur sein Fach, sondern auch Akrobatik, wenn er etwa minutenlang am Geländer des Dirigentenpults hangelt und sich anklammert. Seine unaufdringliche, elegante Stimme verstärkt auf sublime Weise die Botschaften. Aktion ist, wo Raum ist. Also überall. Auch und gerade im Orchester. Die Inszenierung lässt keinen Raum für Eindeutigkeiten, Beschränkungen. Das kleine Parkett unten, wo sich sonst der Orchestergraben auftut, dient den beiden Hauptprotagonisten, Montezuma und Cortes, ebenso als Plattform wie den vielen weiteren Teamern. Die erst brav in einer eigens installierten ersten Reihe im Parkett sitzen. Die mutieren und sich transformieren, die Beschädigungen und die Sehnsüchte derer von Heute wiedergeben, die sich suhlen, halb entkleiden, Sharon Tate abstechen, Wasser in die vom Eroberer geklaute Goldtuba schütten, Federn aus der Krone Montezumas schneiden, sich Tüten, Insignien für Raub wie Konsumismus, über den Kopf stülpen, dem Hermaphroditen die beeindruckenden Brüste und den Latex-Hängepenis mit Hand bemalen. Um am Ende als ein Heer von Alptraumgestalten, die einem Bild von Bosch entsprungen sein könnten, die Bühnenwelt zu erobern. Als Abbilder unserer Deformationen.
Die phantasievollen, oft dadaistischen Kostüme entstammen der Werkstatt von Petra Korink. Absolut sehenswert!
Das umjubelte Orchester dringt unter Leitung von Thomos Peuchel in die Tiefen der Komposition. Aus einer linearen Hörzeit wird „Echtzeit“.
Grandios besetzt die beiden Hauptrollen. Birgit Beckherrn als Montezuma stimmmächtig, expressiv, in den Bewegungen anmutig und rituell. Hohepriesterin, Schamane. Ein Behutsamer, eine Freundin der Göttinnen, der in Maria gleich die Fruchtbarkeitsgöttin erkennt. Männlich, weiblich. Zum Leidwesen Cortes', der Schänder des Glaubens und der Mexikaner, von James Bobby ergreifend und verstörend schön gesungen und gespielt. Das männliche Prinzip mit den schwarzen Schwingen des Todes.
Wie würde das Publikum auf so viel Neues, Ungewohntes, Provokantes reagieren? Intendantin Dagmar Schlingmann gesteht, dass sie vor der Aufführung nervös wie selten war. Das Saarbrücker Publikum zeigt sich von der besten Seite: Tosender Applaus, auch für das Regieteam und Wolfgang Rihm. Und das nach zwei Stunden ohne Pause. Nur ganz wenige haben vorzeitig den Raum verlassen, ein einziger macht seinem Unmut zaghaft Luft. Die bravi waren deutlich lauter und zahlreicher. Die vier Logenbrüder würden sich wieder wortlos verstehen. Sie mussten mit ganz anderen Reaktionen klar kommen. Die Freundinnen und Freunde des Gefälligen werden nicht auf ihre Kosten kommen. In Saarbrücken werden genug kommen, denen es gefällt.
Frank Herkommer
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