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Fakten zur Aufführung 

EUGEN ONEGIN
(Peter Iljitsch Tschaikowsky)
20. Februar 2013

Live-Übertragung aus der Royal Opera Covent Garden, London

Cineplex Münster


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Erinnerung - Ballast der Vergangenheit

Es ist Mittwochabend, immerhin fast die Hälfte des Kinosaals in Münster ist belegt. Opernaufführungen im Kino sind meist dem Samstagabend und der Metropolitan Opera vorbehalten. Unter der Woche werden deutlich weniger Besucher zur Übertragung aus der Royal Opera Covent Garden, London (ROH), angelockt. Viele ältere Herrschaften, aber auch einige junge Besucher lassen sich von dem späten Beginn um halb neun und dem damit verbundenen Ende um halb zwölf nicht abschrecken. Ein paar Zuschauer diskutieren vorab über den Rigoletto, der vor vier Tagen hier aus New York übertragen wurde, und erinnern sich dabei an den jungen, italienischen Dirigenten, dessen Name ihnen nicht einfällt. Erinnerung, das ist auch das Schlagwort der Neuinszenierung der Oper Eugen Onegin, die Kasper Holten besorgt hat. Noch vor der Musik beginnt die Handlung: Tatjana und Onegin treffen aufeinander, Emotionen kochen hoch, die Erinnerung versetzt sie zurück. Die Geschichte in der Rückblende zu erzählen, ist alles andere als ein neuer Ansatz.

Doch Kasper Holten erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern lässt die Zuschauer fühlen, was die Protagonisten empfunden haben. Das ist eine meisterliche Leistung, die auch das entsprechende Bühnendesign benötigt: Mia Stensgaard erschafft in der Bühnenmitte das Portal durch die Zeiten. Vier große Doppel-Türen und ein paar Schränke mit Büchern beherbergt das Portal. Wolfgang Göbbels geniales Lichtdesign und das Videokonzept von Leo Warner beschwören bewusst unscharfe Bilder der Vergangenheit. Ein wogendes Meer aus Korn für das Gutshaus, in dem Tatjana das erste Mal Onegin begegnet. Ein Schneesturm, der plötzlich einfriert, für die Duellszene. Auch die Kostüme von Katrina Lindsay setzen temporäre Prioritäten: So ist der Chor, die Gesellschaft, nur noch in verallgemeinertes Schwarz gekleidet. Die Tatjana der Zukunft trägt ein einzwängendes weißes Kleid, das ihr schlecht steht, denn darunter schimmert das körperanliegende Rot durch, das sie in der Vergangenheit ziert. Eugen Onegin trägt männliches Dunkel-Blau und hebt sich so von der Masse ab.

Beide streifen, aktiv erlebend, durch die Vergangenheit. Ihre erste Begegnung drückt sofort aus: Diese beiden sind füreinander bestimmt. Und doch finden sie nicht zueinander. Im Laufe der Aufführung treffen sie auch ihre jüngeren Ichs. Die Briefszene wird zu einem absolut sinnlichen Höhepunkt, wenn die alte und junge Tatjana, die, nie aufgesetzt, von der Tänzerin Vigdis Hentze Olsen gespielt wird, den Brief an Onegin aufsetzen. So erlebt man Erinnerung und Liebeskummer gleichermaßen. Onegin wiederum begegnet seinem jüngeren Ich, das ist der Tänzer Thom Rackett, in der Duellszene, als dieser seinen Freund Lenski aus verletztem Stolz erschießt. Anschließend drückt er seinem älteren Ich die Waffe in die Hand. Mit der Schuld wirst du leben müssen, nicht ich. Die folgende Polonaise führt Richtung Zukunft: Man sieht wie Onegin vergeblich versucht, mit anderen Frauen zu anzubandeln, doch sie brechen alle in seinen Armen zusammen. Nach und nach füllt sich der Bühnenraum mit den Requisiten der vergangen Szenen: Es ist der liegen gebliebene Ballast der Vergangenheit, auch Lenskis Leiche bleibt bis zum Schluss zurück.

Kasper Holtens Konzept ist durchgängig schlüssig, vielschichtig, spannend und bewegend. Zu jeder Figur kann er seine Geschichte erzählen. Kein Gang auf der Bühne wirkt beliebig. Es ist kurz und bündig eine hervorragende Arbeit. Und erfreulicherweise unterstützt die Kamera noch die Regie. Hier ist offenkundig die Kameraführung vorbereitet worden. Keine verwackelte Einstellung, kein verspäteter Zoom stört das Bild. Die Sänger werden in Nahaufnahme fast ausschließlich nur von der Hüfte an aufwärts gezeigt. Stimmklang wird mit dem gesamt-körperlichen Ausdruck kombiniert und nicht nur mit dem weit offenen Sängermund. Neben dieser luxuriösen Kameraarbeit ist auch der Ton sehr erfreulich. Nur an der Feinabstimmung zwischen Orchester und Sänger müsste noch gearbeitet werden. Etwas irritierend sind die fast schon linksbündigen Untertitel auf der Leinwand, die man mehr mittig erwarten würde. Die Zuschauer im Kino werden aufgefordert, in der Pause ihre Eindrücke zu twittern. Einige Kommentare werden kurz vor Pausenende auf der Leinwand gezeigt – und es sind auch kritische Äußerungen darunter – so könnte eine Übertragung möglicherweise den Weg in die Zukunft der Oper zeigen. Im Gegensatz zur Met verzichtet das ROH auf Interviews, sondern stellt die Künstler und ihre Gedanken in zwei interessanten Filmbeiträgen mit Probenausschnitten vor.

Das Ensemble trägt geschlossen und nachhaltig zum Erfolg des Abends bei. Der Chor von Renato Balsadonna ist bei seinem ersten Einsatz noch nicht ganz bei sich, doch schnell findet er zu einem mitreißenden Zusammenklang. Alle Rollen sind durchweg zufriedenstellend besetzt, sei es der Zaretsky von Jihoon Kim, sei es der Triquet von Christophe Mortagne oder die Larina von Diana Montague. Peter Rose trägt als Gremin seinen bekannten Bassgassenhauer mit Nachdruck vor. Elena Maximova charakterisiert die Olga mit einem gut durchgebildeten Mezzosopran. An ihrer Seite steht der großartige Pavol Breslik, der als Figur Lenski tragisch an sich selber scheitert, und der mit seinem wunderschön timbrierten Tenor auf ganzer Linie gewinnt. Zwischen Krassimira Stoyanova und Simon Keenlyside sprühen die glühenden Funken. Es gibt keinen Moment, wo einer der beiden Künstler aus seiner Rolle fällt. Dass die Stoyanova über eine der technisch besten und zugleich schönsten Stimmen der Gegenwart verfügt, ist nach diesem Auftritt hinlänglich bewiesen. Kein Superlativ wäre angesichts dieser Leistung übertrieben. Mit ihr auf Augenhöhe bewegt sich nicht nur darstellerisch sehr elegant der britische Bariton Keenlyside. Nur mit dieser Symbiose aus Schauspiel und Stimme kann es einem Bariton gelingen, die Rolle des Onegin derartig perfekt zu prägen. Die hervorragende Vorstellung der beiden Künstler kulminiert in einem packenden Finalduett, das zudem furios angeheizt wird durch das Orchestra of the Royal Opera House. Abgesehen von ganz wenigen Unreinheiten im Klang macht dieses Orchester das musikalische Glück vollkommen. Robin Ticciati entfacht ein breites Spektrum an Farben. Filigrane Zwischentöne im Diskurs wechseln sich ab mit aufbrausender Leidenschaft und nachdenklicher Reflektion.

Nach dem letzten Ton bleibt der Zuschauer fassungslos über das Erlebte zurück. In London applaudiert das Publikum mit frenetischer Begeisterung, in Münster hüllt man sich in ergriffenes Schweigen angesichts einer der besten Kinoübertragungen einer Oper der letzten Jahre. Dieser Opernabend bleibt eine Erinnerung.

Christoph Broermann



Fotos: ROH/Bill Cooper