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Fakten zur Aufführung 

CARMEN
(Georges Bizet)
3. April 2014
(Premiere am 6. Juli 1992)

Bayerische Staatsoper München


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Die rote Eminenz

Eine gute Inszenierung macht man oft an den kleinen Dingen fest, die zeigen, wie schlüssig ein Konzept zu Ende gedacht ist. Bei der Münchner Carmen etwa erlischt schon zum Auftakt mit dem Paukenschlag der Ouvertüre ganz überraschend das Licht, und man ist mitten drin in Bizets essenzieller, kraftvoller Musik, die den Zuhörer so überwältigend für sich einnimmt.

Lina Wertmüllers kluge, klassische Inszenierung lebt von solchen durchdachten Momenten ebenso wie von ihrer filmischen Orientierung an großen Bildern. Warum man dem Zuhörer den wunderschönen Verkaufschor im vierten Akt allerdings vorenthält, bleibt unklar. Dafür nimmt sie uns als Draufgabe nicht mit ins nostalgische Zigeuneridyll, sondern zeigt uns einen Blick hinter die Carmen-Fassade in die Seelen zweier grundsätzlich verschiedener Menschen, die die Liebe zu ihrem Unglück vereint. Ihr José will nichts von dieser lasziven Arbeiterin, er wird von ihr sukzessive verführt, korrumpiert und schließlich in den Wahnsinn getrieben. Einmal bricht er aus, schlägt um sich, wohl ebenso wie Carmen wissend, dass ihr Schicksal nicht nur in den Karten bereits besiegelt ist. Carmen nimmt ihren Tod mit Fassung. Diese Eminenz des Weiblichen erprobt berechnend ihr Handwerk, nie getrieben, immer anwesend und sich ihrer Taten bewusst. Diese Carmen fordert ihren Tod wahrlich heraus, indem sie sich früh vor dem Soldaten auf den Rücken legt.

Wertmüllers epischer, filmischer Ansatz wird durch die realistische, edle Ausstattung von Enrico Job komplettiert. Eine gewölbte Spielfläche, je nach Akt eine Miniatur des Hintergrundes. Getragen wird das alles vom klaren Licht von Franco Marri, der mit Saharagelb allein Sevilla in München erzeugen kann. Im Vordergrund wenig Architektur, die mit viel Volk effektvoll gefüllt wird. In den Massenszenen überzeugen liebevoll choreographierte Wimmelbilder eines Jahrmarkts der Eitelkeiten samt einem halben Kindergarten, der über die Szene tobt. In der Zigeunerkneipe erlaubt sich Wertmüller wenige choreographische Späße einer ansonsten humorlosen und der Tragödie gewidmeten Carmen.

Großes Drama und eine hervorragende Titelpartie liefert dabei Anita Rachvelishvili. Experimentiert sie noch ein wenig an Nuancen in der Habanera, verinnerlicht sie spätestens in den Liebesszenen die DNA der Carmen so weit, dass ihr kühles Moffo-Stöhnen ebenso gelingt, wie klar geführte Spitzen dieser an komplizierten Krafttönen nicht armen Partie. Wirft sie dann ihre dunkle Mähne tanzend um das gespannte Gesicht, bekommt man eine Ahnung der diabolischen Verführung dieser ewigen Überfrau. Marcello Giordani enttäuscht in der ersten Hälfte nach einer überschrieenen Blumenarie, die wahrlich im Ausklang schmerzt, plärrt operettenartig weiter, um aus Erfahrung oder Rückgewinnung der Stimmgewalt dann ein wunderschönes Finale hinzulegen, dass auch sein überzogen tenoreskes Spiel vergangener Zeiten entschuldigt. Escamillo Kyle Ketelson bleibt in seinen Glanzstücken hinter den Erwartungen zurück, stemmt den Torero nicht befriedigend und bleibt darstellerisch blass. Sein Bariton scheint nach Liedgesang zu betteln, während er zu Grand opera getrieben wird. Dafür zieht Olga Mykytenko alle lyrischen Register der Micaela. Dank solcher Sopranistinnen gehört der langweiligen Carmennebenbuhlerin mit ihrer Angstarie der mitunter stärkste Moment vieler Bizetaufführungen. Aus dem Ensemble ragen erstmals Tareq Nazmi mit schönster Diktion und der hörbar als Remendado verschenkte Dean Powers hervor.

Durchgängige Zaubermomente mit hohem Tempo liefert der routinierte wie inspirierte Carlo Montanaro am Pult. Mit der Ouvertüre geht er in den fünften Gang, während sein Orchestermotor ohne Reibung summt. Perfekt geölte Flöten und die Betonung der Streicher lassen die Carmen mit all ihren Evergreens direkt ins erhitzte Blut des Publikums gehen. Kollateralschäden entstehen, wenn er etwa Micaela arg gehetzt durch ihr Duett mit Jose treibt. Dafür folgt ihm das Opernorchester wie die Männer der Carmen. Ebenso folgsam und kraftvoll – mit klarem Bewusstsein seiner gelungenen Hauptrolle – der breitbesetzte Chor und lupenreine Kinderchor unter Stellario Fagone, die die Arena zittern lassen.

Diese pulsiert durch Carmens abgründige Faszination und die voyeuristische Nähe, die Wertmüller mit dieser Inszenierung bis ins letzte Detail fühlbar macht. Als das Licht wieder angeht, erwacht ein bewegt begeistertes Publikum. Jubelströme folgen.

Andreas M. Bräu

Fotos: Wilfried Hösl