Heuchelei, allüberall
Shakespeares Maß für Maß denunziert die staatstragende Heuchelei, verlegt im 17. Jahrhundert den Ort der Handlung in ein virtuelles Wien. Der junge Wagner verortet 1834 das explosive Sujet im sizilianischen Palermo, führt aber als rigorosen Statthalter – Todesstrafe auf Karnevals-Masken und „freie Liebe“ – einen deutschen Friedrich ein, ironisiert seine erlebte heuchlerische Moral. In Meiningen findet Ansgar Haag die roaring twenties als angemessene Epoche: Frenetische Freizügigkeit trifft auf brutal-herrschende „Moral“ - unterdrückt werden gläubige Unschuld, Liebe, Vertrauen, emotionale Sicherheit. Der Schrecken überfällt am Schluss alle: Die braunen Horden zerhämmern alle Kontroversen – die heuchelnd-verkommene Macht, die lustbetonte Spaß-Gesellschaft. Wagners Oper wird zum Menetekel!
Musikalisch ist Wagners Frühwerk offensichtlich ein Produkt der Alltagsgeschäfte als Dirigent, vornehmlich der Bellini- und Donizetti-Opern – das wird hörbar in Rezitativen, Ensembles und Arien. Aber: Die erahnte „neue Musik“ lugt in Phasen aus den vorgezeichneten Adaptationen hervor.
Der neue GMD Philippe Bach leitet die Meininger Hofkapelle zu einem enorm variablen Klang, lässt die Bläser krachen, gibt den Streichern ihren Glanz, präsentiert das Schlagzeug als dramatisierenden Corpus. Man fragt sich nach diesem Abend, weshalb dieser so lebendige frühe Wagner im Opern-Betrieb ignoriert wird. Meiningen kann da einen Trend setzen.
Das famose Meininger Ensemble setzt sich mit allem Elan und stimmlicher Kompetenz ein, garantiert einen Opern-Abend der Extra-Klasse! Dae-Hee Shin gibt mit voluminösem Bariton einen brutalen Friedrich; Bettina Kampp wird mit der anspruchsvollen Rolle der unschuldig-kämpfenden Isabella bravourös fertig: überzeugend in ihrem flexiblen Sopran, mit faszinierender Kraft und kontrollierten Höhen. Camila Ribero-Souza nutzt die Präsentation der Mariana, der schändlich verlassenen Frau, zu einer ergreifenden Passage der missa di voce. Xu Chang brilliert als ambivalenter Luzio mit frei tönendem Tenor. Dem weichlich-dekadenten Claudio verleiht Rodrigo Porras Garulo mit flexiblem Tenor angemessene Phrasierungskunst. Der unverwüstliche Roland Hartmann ist ein asig-geiler Polizeichef Brighella; Maximilian Argmann als helfender Freund Antonio, Francis Bouyer als unreflektierter Angelo – die „kleinen“ Rollen werden in Meiningen kompetent besetzt. Der Chor unter der Leitung von Sierd Quarré singt – trotz einiger Unstimmigkeiten – in Konsonanz mit dem Orchester, zeigt kollektive Bewegungsaktionen.
Als „braune Kapelle“ tritt die Big Band des Gymnasiums Mellrichstadt auf – für die jugendlichen Musiker sicherlich eine Überwindung.
Die grandiose Bühnentechnik wird vom Bühnen-Bauer Helge Ullmann variabel genutzt – in Anlehnung an die Räume der vorangegangenen Shakespeare-Version. Renate Schmitzer entwirft stimulierend-assoziative Kostüme im Stil der Zwanziger Jahre – lasziv und martialisch: kundig und stimulierend.
Das Meininger Publikum – auch viele Franken und Hessen – folgt konzentriert, kommentiert schon mal zum Sitznachbarn, und feiert am Schluss die Sänger, das Orchester und das Regie-Team!
Zur Wieder-Eröffnung des Theaters ein Fest in Meiningen!
Franz R. Stuke
|