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Fakten zur Aufführung 

KRIEG UND FRIEDEN
(Sergej Prokofjew)
16. September 2011
(Premiere der gekürzten Fassung)

Oper Köln


Points of Honor                      

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Nach der Premiere



Olesya Golovneva ist froh, dass alles so gut gelaufen ist, Nicolas Brieger blickt bei aller Freude auch ein wenig nachdenklich zurück (4'24).

 

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Tanzt den Walzer, meine Damen

Am Vorabend eines Krieges schwelgen die Reichen und Mächtigen der Gesellschaft in Vergnügen und Dekadenz. Auf rauschenden Bällen tanzen sie den Walzer als Inbegriff der Leichtigkeit und Sorglosigkeit. Otto Pichler hat seiner Choreographie viel Liebe, Fleiß und Detailfreude gewidmet. Da wird nicht ein bisschen rumgehüpft, sondern der Walzer in all seinen Formen zelebriert. Eine gewaltige Anstrengung für Solisten, Chor und Statisterie, die ihren Lohn in einer dramatischen Glaubhaftigkeit findet. Dazwischen bleibt noch Zeit für Liebeleien, Liebesaffären, sexuelle Ausschweifungen und die ganz große Liebe. Dass diese Gesellschaft längst im Zerfall begriffen ist, vor ihrem unmittelbaren Untergang steht, mag allein der außenstehende Betrachter ahnen. Zwar kleidet Andrea Schmidt-Futterer ihre Figuren in historisch-phantasievolle Kostüme, die an die Moskauer Schickeria erinnern, später auch die Uniformen von Russen und Franzosen erkennen lassen, zwar fällt auch die Jahreszahl 1809, aber Nicolas Brieger drängt in seiner von ursprünglich fünfeinhalb auf nunmehr gute drei Stunden gekürzten Fassung auf Verdichtung und Verknappung. Weniger die historische Genauigkeit, als vielmehr die Allgemeingültigkeit steht bei ihm im Vordergrund. So werden wohl die Attitüden eines Napoleon Bonaparte persifliert, im Vordergrund bleibt jedoch die Groteske eines jeden Kriegsherren, dem irgendwann die Situation entgleitet. Der dann hilflos zusieht und beginnt, abstruse Entscheidungen zu treffen. Raimund Bauer, der auf seiner Bühne Stahlgerüste mit Fassaden hin und her fahren lässt, auf denen Alexander Koppelmann immer wieder mit seinem Licht die Stimmung intensiviert, verdeutlicht im späteren Kriegsgeschehen, dass es nur ein Schlachtfeld gibt. Am Ende der Schlacht existiert kein Gut und Böse mehr, überleben keine Sieger und Besiegten, am Ende des Krieges triumphieren allein Tod, Elend und Zerstörung. Um dem Zuschauer diese Erkenntnis zu vermitteln, schreckt Regisseur Brieger auch nicht vor Vergewaltigungsszene und dem Aufknüpfen eines Soldaten zurück. Die Schrecken eines Krieges dürfen nicht verschwiegen werden, und dazu gehört eben neben Pulverdampf und Feuersbrunst auch und vor allem der Verlust der Menschlichkeit. So wird aus dem historischen Roman Tolstois ein mitreißender, aufschreckender, nachdrücklicher Exkurs über die Sinnlosigkeit des Krieges.

Das kann dem Regisseur nur gelingen, wenn er, wie an diesem Abend in Köln, über Personal verfügt, das sich mit höchster Professionalität die Seele aus dem Leib spielt und singt. Bis in die kleinste Rolle hinein wird hier Spitzenleistung geboten. Der Star des Abends ist neben dem Stück Olesya Golovneva. Wieder einmal spielt sie nicht, sondern ist die Natascha, singt selbst in schwierigsten Situationen so rein und klar, so konzentriert wie überzeugend, dass dem Publikum kollektiv der Atem stocken möchte. Durch die Handlung führt Matthias Klink als Graf Pierre Besuchow mit unglaublich variabler Stimme, mit der es ihm mehr als der Situation selbst gelingt, die Befindlichkeiten darzustellen. Neben den kurzen Phasen des Glücks zerrt es Fürst Andrej Bolkonski immer wieder in die Täler von Zweifel und Verzweiflung bis zur Todesstunde. Das drückt Johannes Martin Kränzle in Stimme und Gestus fabelhaft aus. Mirko Roschkowski verleiht dem Anatole Karagin einen herb-grüblerischen Ton. Im Zusammenspiel mit den übrigen, ebenso tadellos darbietenden Solisten vermögen die Akteure, die so gefürchtete Personenflut russischer Romane überschaubar und in ihren Charakteren erkennbar zu machen.

Fantastische Leistungen auch vom Chor und Extrachor der Oper Köln, die in der Einstudierung von Andrew Ollivant immer wieder zu Höchstleistungen streben, was spätestens dann wieder gelingt, wenn ein Teil des Chores den Zuschauerraum von hinten besingt, ein nahezu quadrophoner Ton entsteht. Auch die Statisterie unter Leitung von Martina Pohl ist in diesem Stück wie wohl nur selten gefordert, fällt besonders im Todeskampf von Bolkonski auf, wenn sie die bösen Geister so stumm wie glaubhaft spielt.

Michael Sanderling führt mit weichem, raumgreifendem Dirigat das Gürzenich-Orchester zu exzellenter Harmonie, die die Tücken Prokofjewscher Kompositionskunst scheinbar mühelos meistert und dabei den Stimmen ausreichend Raum lässt, sich zu entfalten.

Nicolas Brieger schafft mit seinem Team ein opulentes Werk, das beim Zuschauer nicht nur eine glückhafte Freude an Oper entstehen lässt, sondern auch durchaus nachdenklich die Frage, ob die Menschheit wirklich nach so vielen Kriegen immer noch nichts dazugelernt hat. Das Publikum braucht einen Moment, um aus der Briegerschen Welt wieder aufzutauchen, ehe es die extraordinären Leistungen stürmisch beklatscht, mit Bravo-Rufen bedenkt und sich letztlich doch zu stehenden Ovationen erhebt.

Michael S. Zerban