Es ist nur mäßig warm in der Kreuzkirche zu Herne. Zu vorgerückter Stunde kriecht die Luft kalt über den Steinfußboden. Die wenigen Zuschauerinnen und Zuschauer werden es bald nicht mehr bemerken. Im Altarraum ist eine provisorische Bühne aufgebaut. Eine dunkle Leinwand im Zentrum, rechts davor ein Baumstamm, der später als Sitzgelegenheit dienen wird. Der Minimalismus ist von Regisseurin Sandra Herzic gewollt. Die szenische Darstellung konzentriert sich vollständig darauf, die musikalische Wirkung zu unterstreichen. Was bei anderen Aufführungen eher nach Ausrede klingt, stellt sich hier als gelungener Kunstgriff dar. Lediglich das Licht wechselt stimmungsadäquat, unterstreicht die Dramatik der Geschehnisse.
Zwei Männer und eine Frau betreten die Bühne. Sie erzählen die biblische Geschichte von Judith und Holofernes nach dem 1501 entstandenen Epos Judita von Marko Marulic. Albrecht Maurer spielt die Fidel und die Lirica, von Norbert Rodenkirchen sind Flöten und Dvojnice zu hören, während Katarina Livljanic im Dialekt des kroatischen Kirchen-Slawonisch singt. Der Text ist ursprünglich ohne Musik überliefert, „seine metrische Struktur korrespondiert jedoch mit einer kleinen Zahl archaischer glagolitischer Melodien, die im mittelalterlichen Dalmatien zum Erzählen von Geschichten eingesetzt wurden, meist im Kontext sehr emotionaler und dramatischer Gesänge der Passionszeit“, sagt Livljanic. So entsteht ein Wechselspiel zwischen historischen Instrumenten und religiös-dramatisch anmutendem Gesang, dessen Wirkung durch die Bewegung der Akteure um die Dimension des Raums erweitert wird.
Auch auf historische Kostüme verzichtet Herzic bewusst, denn nach ihrer Auffassung erneuert die Geschichte der Judith sich immer wieder, „von einer Epoche zur anderen, und sie hat auch in unser verworrenen und blutigen Welt nichts von ihrer Bedeutung verloren“. In der Tat scheint uns der ethische Konflikt, ob ein einzelner getötet werden darf, um „ein Volk zu retten“, gerade in diesen Tagen nur allzu bekannt. Dass die Täterin sich in diesem Fall durch religiöse Erhöhung legitimiert sieht und ihr der Erfolg scheinbar Recht gibt, erschwert allenfalls die Antwort, macht sie aber auf gar keinen Fall einfacher. Herzic entzieht sich der Antwort, indem sie es bei der Erzählung der biblischen Geschichte belässt.
Livljanic konzentriert sich auf die Emotionalität der Entscheidungen und der Geschehnisse, vermittelt mit unglaublicher Intensität die Handlung. Allenfalls die Gestik wirkt hie und da ein wenig theatralisch überzogen. Virtuos unterstützt wird sie von den Musikern, die mit Instrumentenwechseln, Auf- und Abgängen und Lautstärkewechseln beinahe so etwas wie eine „modern wirkende Musik“ in einem Spektrum von gruselig bis dramatisch erzeugen.
Die so erzeugte Intensität erscheint an diesem Abend nur möglich bei gleichzeitigem völligen Verstehen, das die Übertitel ermöglichen, die Jean-Marie Jobard auf die zentrale Leinwand projiziert. So wird es spannend sein zu erfahren, ob die gleiche Intensität auch vor dem Radiogerät entsteht, wenn die Sendung am Donnerstag, 1.12.2011, gegen 20 Uhr in WDR 3 ausgestrahlt wird. Das Publikum dieses Abends jedenfalls ist erst mal wie betäubt und dann begeistert. Man mag sich nach einem solchen Abend nicht mehr in eine Kneipe setzen und reden. Lieber möchte man sich zurückziehen und das Erlebte nachhallen lassen. Das passiert auch nicht so oft.