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Fakten zur Aufführung 

SPRUNG INS LEERE
(Felix Leuschner/Reto Finger)
10. Oktober 2012
(Uraufführung am 6. Oktober 2012)

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen


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Der Klang von Ultramarinblau

Wer sich daran macht, eine Hommage für den Ausnahmekünstler Yves Klein (1928 – 1962) zu schaffen, darf, ja muss in Dimensionen denken, die durch konventionelle Kunstformen und Ausdrucksmittel nicht gedeckt sind. Felix Leuschner und Reto Finger als Komponisten und Dramatiker mit viel Erfahrung in der Gestaltung moderner Bühnenmusikstücke haben das in ihrer Auftragsarbeit zum 50. Todestag von Yves Klein für das Musiktheater im Revier (MiR) vollbracht. Das MiR ehrt mit dieser Uraufführung den französischen Künstler, der zur Eröffnung des Theaterneubaus in der Bergbau- und Hüttenstadt Gelsenkirchen 1959 zunächst belächelte und missverstandene große Wand- und Schwammreliefs für die beiden Foyers in einem intensiven Mittelmeer-Blau geschaffen hat. Es ist ihnen gelungen! Aber wie können ein Komponist und ein Bühnendramaturg das inzwischen zum Markenzeichnen von Yves Klein gewordene Ultramarin-Blau, auch Gelsenkirchener Blau, in Musik umsetzen und auf die Bühne bringen, es gar Oper nennen?

Ein wenig Skepsis und Zurückhaltung bei den Besuchern ist schon zu beobachten, als sie sich nach der Einführung von Dramaturgin Anna Grundmeier und Felix Leuschner im Westfoyer des MiR zu orientieren versuchen. Eine „Spielfläche“, gar eine Bühne ist nicht erkennbar. Die knapp 100 Besucher müssen sich erst im Westfoyer zurecht finden, in dem auf einer freien Fläche ungeordnet rund 80 der ebenfalls für das MiR vom Architektenteam um Werner Ruhnau entworfenen offenen Drehhocker stehen. Dass die Szene mit Bedacht direkt unterhalb der ultramarinblauen Yves-Klein-Wand- und Schwamm-Reliefs platziert ist, hat Leuschner schon angekündigt. Zwei Gerüste unterbrechen den Raum unterhalb der Blau-Reliefs, als hätten Bauarbeiter sie vergessen. Zahlreiche große Gongs und Becken sowie ein Flügel sind ebenfalls im Raum verteilt, ein kleines Orchester mit etwa 30 Musikern ist seitlich platziert.

Aus mehreren Richtungen tritt langsam ein Chor auf, leichtes Summen, wortloses Singen setzt ein, allmählich klingen die Instrumente hinzu, durch Dirk Erdelkamp sicher geführt und akzentuiert. Rhythmen, Melodiebögen, gar Tonarten oder ähnliches sind nicht erkennbar, die „Musik“ bleibt schwebend, abstrakt, tonal. Trotzdem erfüllt immer mehr ein angenehm empfundener Klang den hohen Foyerraum. Ist das Musik? Wohl nur, wenn man sie als Zusammentreffen nicht zufällig entstandener Geräusche versteht.

Die anfangs skeptisch-gespannt umher schauenden Zuhörer haben sich inzwischen an dieses ungewohnte „Theater“ gewöhnt, die Musik, die Nutzung des Raumes und das Hinzutreten von zwei Sängerinnen und zwei Sängern haben die Anfangsspannung gelockert, eine offen-heitere Grundstimmung ist zu spüren. Hierzu trägt vor allem der Chor bei, der in ständiger Bewegung agiert: Mal in klassischer Kombination mit dem Orchester, mal auf einem der Gerüste oder entrückt in einer der oberen, durch Glas offenen Etagen klingen seine abstrakten Tongemälde sehr unterschiedlich durch die hohen Theaterräume, brechen sich an Glas- oder Betonflächen und kehren verfremdet zum Zuhörer zurück. Sie entsprechen musikalisch-tonal den blauen Reliefs, auch Kleins monochromatische Reliefflächen bieten sich je nach Beleuchtung und Standort immer wieder verändert dar. Abstrakte Musik, monochromatische Klangflächen in Spannung zu abstrakter Kunst. – In fünf unscharf angerissenen Szenen skizzieren die Sängerinnen und Sänger sowie der „Schauspieler“ Gedankenelemente der Kunst von Yves Klein und überlassen ihre Interpretation den Zuschauern, individuelle, konkrete Kunst. Die Sopranistinnen Elise Kaufmann und Tina Stegemann, Hongjae Lim, Tenor, sowie Vasilios Manis, Bariton, überzeugen auch in ihren meist textfreien Tonpassagen mit sicherer, klangvoller Stimmführung. Die wenigen Wortpassagen, die der „Schauspieler“ in diese sich ständig verändernde Szene bringt, bleiben zum Teil unverständlich, zumindest unklar. Erstaunlich ist, dass Mark Weigel als „Schauspieler“ mit einem präzisen Spiel der changierenden Figur klare Umrisse zu verleihen vermag und sie authentisch macht. Auch die Phantasien um den Sprung, aus unsicherer Quelle der Kleinschen Biographie entnommen, bleiben verschwommen. Wen das kleine Mädchen, unbekümmert gespielt von Mina A. Gerigk, mit ihrer Tafel- und Bodenaufschrift „Verräter der Kunst“ meint, bleibt rätselhaft. Es ist den Besuchern überlassen, diese Aphorismen zu interpretieren oder zu übergehen. Wie weit die Identifikation der Komponisten mit Yves Klein, ihrer Bezugsperson, geht, vielleicht für eine solche Arbeit gehen muss, vermittelt Reto Finger, wenn er hinsichtlich des „Sprungs“ bekennt: „Ich für meinen Teil bin … fest davon überzeugt, dass Yves Klein fliegen konnte.“ Die „Immaterialität“ der Szenen wird von der Lichtführung Helmut Justus´ effektvoll und sparsam unterstützt. Bis auf den akkurat bürgerlich gekleideten Schauspieler hat Andreas Meyer in den Kostümen klare Farbkontraste gesetzt. Christian Jeub hat den Chor vorzüglich auf seine schwierige Aufgabe vorbereitet, tonale Klangflächen in einem großen Raum akustisch auszubreiten.

Leuschner und Finger haben sich in das Wagnis begeben, ein Musikwerk in Verbindung zu einer an sich schon abstrakten Kunst zu stellen. Ulla Theißen hat diese eigenwillige Inszenierung originell und beziehungsreich in die ebenfalls eigenwillige Architektur des MiR gesetzt und die Eigenheiten des optisch offenen Ortes aufgenommen, um die tonalen Ideen der Produktion zu unterstützen. Dem Team ist eine authentische, originelle, zum Teil auch unterhaltsame Interpretation gelungen, die ein wenig die Leichtigkeit der Architektur des Theaterbaues und seine Beziehung zur kontrastierenden Gelsenkirchener Außenwelt aufnimmt.

Ob die Besucher in dem Gefühl nach Hause gehen, einen „Opernabend“ erlebt zu haben, ist eine müßige Frage. Jedenfalls wandelt sich die anfänglich gespannte Skepsis zum Schluss in eine zustimmend-heitere Akzeptanz der Aufführung, die sich in anhaltendem Beifall äußert. Die kleine Theatergemeinde, die sich zu diesem „Sprung“ zusammen findet, erlebt einen ungewöhnlichen, unkonventionellen, aber sehr spannenden Theaterabend auf hohem Niveau.

Horst Dichanz

Fotos: Pedro Malinowski