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Fakten zur Aufführung 

NEXT TO NORMAL
(Brian Yorkey/Tom Kitt)
2. November 2013
(Premiere am 11. Oktober 2013)

Stadttheater Fürth


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Die Psychiatrie kommt im Musical an

Die Psychiatrie oder seelische Erkrankungen als Stoff für ein Musical – bis vor kurzem war das kein Gegenstand im deutschen Unterhaltungstheater. Doch jetzt hat das Thema im Abstand von nur wenigen Monaten gleich zweimal auf die Bühne gefunden. In der Berliner Neuköllner Oper konnte man im März in Peter Lunds Musical Stimmen im Kopf den Betrieb auf einer psychiatrischen Station beklemmend nah kennenlernen. Und im Oktober folgte in Fürth die deutschsprachige Erstaufführung von next to normal, ein Stück, in dessen Zentrum eine Frau mit einer manisch-depressiven Erkrankung steht. Es hatte 2009 am Broadway Premiere und entwickelte sich zu einem Renner, der durch den Gewinn des Pulitzer-Preises und dreier Tony-Awards noch zusätzliches Ansehen erwarb. Danach sah es am Anfang allerdings nicht aus, denn vom Erstentwurf Feeling Electric bis zur endgültigen Fassung brauchte es gut zehn Jahre, in denen es mehrfach überarbeitet und in Serien am off-Broadway ausprobiert wurde. Auch die Geburt in Deutschland war schwierig, wie Initiator und Regisseur Titus Hoffmann berichtet. Kein Theater traute sich an das Psychiatriedrama. Zu ernst sei das Thema, zu wenig gefällig, hieß es als Begründung. Das stimmt, denn in Fast normal, so die deutsche Übersetzung, geht es um eine Familie, die durch die psychische Krankheit der Ehefrau und Mutter auseinanderbricht. Ungeschönt wird das Leben mit einer bipolaren Störung gezeigt; man wird Zeuge, wie Wahnvorstellungen und Stimmungsschwankungen die Betroffene und ihre Angehörigen beeinflussen und verfolgt diverse Behandlungsversuche, die als letzte Möglichkeit zu einer Elektrokrampftherapie führen. Das Ende allerdings ist vorsichtig optimistisch: das Befinden der Patientin hat sich gebessert, und sie beschließt einen Neuanfang, allerdings um den Preis, die Familie zu verlassen.

Der Vehemenz und Überzeugungskraft von Titus Hoffmann ist es zu verdanken, dass Fast normal nach langwierigen Verhandlungen mit diversen Theatern den Weg nach Deutschland gefunden hat. Erst das Stadttheater Fürth gab der Hartnäckigkeit des Regisseurs nach und damit dem Stück eine Chance – und wird durch einen Bombenerfolg in seiner Entscheidung bestätigt. Die zehn Aufführungen sind nicht nur ausverkauft, sondern sichern dem Theater auch überregionale Beachtung, weil sie Musicalfans aus dem ganzen Land anlocken. Zu Recht.

Denn Fast normal ist ein hoch emotionales, wirklichkeitsnahes, aber auch herausforderndes Stück, das die Zuschauer mit einer Realität konfrontiert, die jeden treffen könnte. In seiner Inszenierung gelingt es Titus Hoffmann, der auch für die treffende Übersetzung verantwortlich ist, die Geschichte ohne Pathos, Sentimentalität und plakative Effekte packend zu erzählen und ihr sogar auch Leichtigkeit und komische Seiten abzugewinnen. Als zweckdienliche Kulisse liefert ihm Stephan Prattes ein zweistöckiges Metallgerüst mit sechs offenen Räumen, die sich durch Beleuchtungswechsel schnell und wirkungsvoll in verschiedene Schauplätze wie Wohnzimmer, Arztpraxis und Krankenhaus verwandeln.

Das Ensemble ist großartig: hier agieren leibhaftige Menschen und keine Kunstfiguren. Mit Pia Douwes hat eine der renommiertesten Musicaldarstellerinnen im deutschsprachigen Raum die Hauptrolle übernommen. Sie verkörpert Diana Goodman so eindringlich und ernsthaft, dass man ihr in jedem Moment deren Labilität und Verstörtheit abnimmt. Als Ehepartner Dan ist mit Thomas Borchert ein weiterer Star der Musicalszene mit von der Partie. Auch er beweist großes gestalterisches Einfühlungsvermögen, indem er glaubhaft ausspielt, wie Dan trotz der Sorge um den Zustand seiner Frau immer versucht, Verständnis für ihre Krankheitsphasen aufzubringen. Die junge Generation steht den Älteren in punkto Präsenz und Intensität in nichts nach. Vor allem Sabrina Weckerlin als Tochter Natalie gelingt ein vielschichtiges Rollenporträt. Sie verleiht der jungen Frau, die sich im Handlungsverlauf in einen Drogenrausch rettet, um der Wirklichkeit zu entfliehen, eine bewegende Mischung aus Trotz, Aufbegehren, Verletzlichkeit und Enttäuschung über ihre Mutter, die ungemein authentisch wirkt. Ihren Freund Henry stattet Dominik Hees mit burschikosem Charme und Lässigkeit aus. Dirk Johnston gibt den Phantomsohn Gabe als Temperamentbündel, das mit jugendlicher Unbekümmertheit über die Bühne tobt. Ramin Dustdar zeigt als Arzt nicht nur die angemessene therapeutische Haltung eines routinierten Doktors, sondern auch dämonische Züge, wenn er die Elektroschockbehandlung anpreist.

Die Songs von Tom Kitt verlangen von den Akteuren viel Power und Expression. Doch gehen sie nicht sonderlich ins Ohr, sondern verbreiten einen meist harten, pulsierenden Sound. Die fünfköpfige Rockband wird von Christoph Wohlleben ordentlich angeheizt, übertönt, obwohl auf der Hinterbühne postiert, allerdings mitunter die Solisten. Als der letzte Ton verklungen ist, reißt es das gesamte Auditorium von den Sitzen und die Spannung entlädt sich in standing ovations für alle Mitwirkenden. Eine Wiederaufnahme ist vorgesehen, ebenso Gastspiele in anderen Städten.

Karin Coper





Fotos: Thomas Langer