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Fakten zur Aufführung 

LA STRANIERA
(Vincenzo Bellini)
2. März 2014
(Premiere)

Aalto-Theater Essen


Points of Honor                      

Musik

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Röntgenblick in der Welt der Entschleunigung

Erlauben wir uns ein Gedankenspiel. Vincenzo Bellini stirbt nicht wie im realen Leben im September 1835 in Puteaux bei Paris, gerade 33-jährig. Nehmen wir an, das wäre sechs Jahre früher der Fall gewesen, sagen wir in Mailand, einige Monate nach der Uraufführung seiner vierten Oper, des Melodramas La Straniera, im Februar 1829 am dortigen Teatro alla Scala. Der Sizilianer, Begründer und Perfektionist des Genres der romantischen italienischen Oper, Rivale Donizettis und Wegbereiter Verdis, hätte nicht mehr die Superlative des „Melodramma tragico“ geschrieben, die Norma vor allem und I Puritani. Seine Straniera, ein Zweiakter auf ein Libretto Felice Romanis nach dem Buch L'Étrangère von Victor d'Arlincourt, wäre die letzte Station auf dem ambitiösen Weg gewesen, der Komponistenepoche des Belcanto eine finale Ästhetik aus dem Primat von Melodik und Gesang zu verleihen und diese letztlich unsterblich zu machen. Hätte Bellini, und damit kommen wir auf den gewollten Punkt, dann seinen heutigen Stellenwert in der Operngeschichte, seinen unbezweifelbaren Rang als einzigartiger Melodiker, den schon Wagner früh erkannte?

Vermutlich nicht, um die Spekulation zu beenden. Sein Opus Nummer vier würde sicherlich häufiger als in den letzten 50 Jahren auf den Spielplänen der Opernhäuser stehen. Doch Bellini wäre nicht die Inkarnation des Belcanto-Stils in der Oper schlechthin geworden und das Repertoire der Gattung um wesentliche Stücke ärmer. Bei der Straniera jetzt am Essener Aalto-Theater wird plausibel, warum der Rang Bellinis elementar an die späteren Werke La Somnambula und so weiter gebunden ist. Allerdings auch, warum die seltene Gelegenheit eines Rendezvous mit dem Werk keineswegs automatisch einen enttäuschenden Opernabend zur Folge hat. Ganz im Gegenteil!

Zwischen 1875 und 1935 soll die Komposition gänzlich aus dem Repertoire der Bühnen Europas verschwunden gewesen sein. Die Distanz von Intendanten, Regisseuren und Dirigenten zur Straniera wird der Rezeptionsgeschichte zufolge dem verworrenen Stoff und dem irritierenden Geschehen zugeschrieben, die dem Libretto zugrunde liegen. Romani gelingt es nicht wirklich überzeugend, die Handlung der literarischen Vorlage in ein überzeugendes Melodramma tragico umzuwandeln. Um 1200 in Frankreich verbirgt sich die von König Philipp IV. geliebte Herzogstochter Agnese unter der Beobachtung ihres Bruders Leopoldo auf einem Schloss in der Bretagne. Ihretwegen hat der König seine Ehefrau verstoßen. Doch der Papst will die Verbindung nicht annullieren. Er droht mit dem Kirchenbann, wenn der König seine Frau nicht wieder aufnimmt. Agnese flieht aus dem Schloss, versteckt sich unter dem Namen Alaide am See von Montolino und erweckt als verschleiert erscheinende „Fremde“ den Argwohn der Anwohner.

Psychologisches Zentrum des Bühnengeschehens ist der Zwiespalt der persona incognita zwischen dem jungen Graf Arturo di Ravenstel, der sich in eine leidenschaftliche Liebe zu ihr verstrickt hat, und die Bindung an den fernen König. Romanis Interesse an dem kruden Sujet resultiert aus dem Scoop des Dramatikers, die Identität der Agnese möglichst lange geheim und so das Publikum unter Spannung zu halten. Die Folge dieser Grundentscheidung sind allerdings häufig alberne Texte und absurde Situationen, aus denen die Sänger-Darsteller halbwegs mit Würde wieder herausfinden müssen.

In der Essener Inszenierung, in Koproduktion mit der Oper Zürich und dem Theater an der Wien entstanden, legt Regisseur Christof Loy das Hauptaugenmerk auf die Dar- und Ausstellung der Emotionen, die das Personal d'Arlincourts bei Romani und Bellini auf dem langen Weg zur Offenbarung des Geheimnisses er- und durchleben müssen. Wie könnten die denn auch gering ausfallen, wenn Alaide die Reprise jener erschütternden Erfahrung widerfährt, dass sie ausgerechnet ein Mann mit glühender Leidenschaft zu erobern trachtet, der sich selbst unmittelbar vor seiner Hochzeit weiß? „Wie durch ein Vergrößerungsglas“, erläutert Aalto-Debütant Loy, mehrfach als Regisseur des Jahres dekoriert, seinen Ansatz, könne der Zuschauer die Gefühle der Personen auf der Bühne betrachten. Opernregie als Vivisektion mit den Mitteln des Musiktheaters.

Im Verein mit der Bühnenbildnerin Annette Kurz und mit Ursula Renzenbrink, die den Akteuren Kostüme aus der Zeit Bellinis geschneidert hat, gelingen Loy für seine Sicht auf die Schicksale der Ge- und Vertriebenen ein packendes Gesamttableau und viele Momentaufnahmen, die das Publikum fesseln und fordern. Hölzer und Balken, Seile und Stricke sind die bestimmenden formalen Mittel des Theaterhandwerks. Eine rohe Symbolik. So roh, wie die sich in ihrer Selbstverliebtheit verrennenden Aristokraten von den einfachen Leuten wahrgenommen werden. In Wirklichkeit gemeine Menschen, die ihre Gemeinheit im Verlauf des Stückes noch erweisen werden. Spielt doch das Ganze zu Zeiten, in denen offenbar der simple Anschein und ein bösartiger Antreiber reichten, eine „Fremde“ als Hexe zu denunzieren und zum Richtplatz zu zerren. Symbolisiert wird so auch die Grobheit, die der Hochsensible Arturo und seine von ihm verschmähte Braut Isoletta durch die Brutalität der Außenwelt erfahren. Todesnähe und Todessehnsucht umgeben schon den Beginn. Arturo möchte sich gleich mit der Ouvertüre erhängen. Das wird ihm verwehrt, woraufhin er sich auf den Bretterboden streckt und den aufgebahrten Toten gibt.

Konturen eines Waldes, Schleier in Weiß oder Schwarz, die mal das Leben, die Hochzeit, mal das Scheitern, den Tod, aufrufen, ein Gemälde als Zitat des Sees zu Montolino, an dessen Ufer sich alles abspielt – Loy begnügt sich mit einem reduzierten Raum des Unglücks als Kulisse des eigentlichen Szenariums und sparsamen Accessoires. Denn es geht ihm vornehmlich um den Röntgenblick auf völlig richtungslose Menschen und das Erleben der Musik Bellinis, in der diese sich apathisch oder cholerisch bewegen, wie von fremden Mächten an unsichtbaren Schnüren gezogen. Ohne diese Musik würden wir Heutigen das Spektakel vermutlich als albernen Schmarren empfinden. Umgekehrt gedacht, wird damit der ganze Reiz des Unterfangens bewusst. Sind doch in der Straniera bereits sämtliche Stilmittel auskomponiert, die das Originäre und Innovative des Komponisten in der Oper ausmachen: lange, scheinbar endlose Kantilenen und orchestrale Verläufe. Für dieses Stilmittel in Bellinis Strategie der Entschleunigung hat Verdi die treffliche Wendung „melodie lunghe, lunghe, lunghe“ geprägt. Zudem melodische, sich langsam aufbauende und windende Kaskaden für Orchester und Sänger unter Verzicht auf die zuvor selbstverständlichen „Nummern“ und Arien, die ein speziell von Rossini verwöhntes Publikum um 1820 eigentlich erst in die Theater zu Mailand, Venedig oder Paris gelockt haben dürfte.

Auf den ersten Blick scheint Arturo das „Opfer“ der durchkomponierten Straniera zu sein. Bellini hat den Tenor weitgehend auf einen Deklamations- und Parlando-Stil begrenzt. Alexey Sayapin singt den Part indes ungerührt und unangefochten mit einer ergreifenden Stimme, die die Vorzüge eines angenehmen Timbres mit einer sicheren Intonation in allen Lagen vereint. Dem Essener Publikum präsentiert sich die zentrale Figur in Loys Regiekonzept als ein Wesensverwandter von Massenets Werther, der ja seit Ende November im Aalto auf dem Spielplan und auf der Bühne steht. Eine Parallele individueller Lebensunfähigkeit in romantischer Überhöhung. Stimmlich sowie in Mimik und Gestik imponiert Luca Grassi in der Rolle des Barons von Valdeburgo, hinter dem sich Leopoldo verbirgt. Sein Bariton erreicht die Herzen des Publikums mit großer Intensität, was angesichts der zwielichtigen Rolle, die er in dem Drama spielt, ein kleines Wunder ist. Mit Baurzhan Anderzhanov als Prior, Tijl Faveyts als Lord von Montolino und Albrecht Kludszuweit in der Rolle des Osburgo sind auch die weiteren männlichen Rollen angemessen besetzt.

Während die Titelpartie in Zürich mit Edita Gruberova besetzt war, zeigt Marlis Petersen eine großartige Alaide in Essen. Wie ihr biegsamer, mal lyrisch-inniger, mal herb-metallischer Sopran die unterschiedlichen Stadien der Straniera von Liebe und Leidenschaft, von Wahn und Verzweiflung durchmisst und beherrscht, lässt Erinnerungen an ihre größten Erfolge an der Rheinoper wach werden. Ieva Prudnikovaite gibt die von Arturo verprellte Isoletta, Tochter des Lord von Montolino, mit großer Empathie und der ganzen Bandbreite ihres ausdruckstarken Mezzosoprans. Ihr Pech jenseits des Unglücks im Leben: Bellini hat ihr zu wenig zu singen geschrieben.

Josep Caballé Domenech, Debütant im Aalto-Theater, organisiert mit den Essener Philharmonikern einen Belcanto-Sound im besten Bellini-Stil. Satt und leuchtend in den Passagen der vokalen Verführung, zurückhaltend und einfühlsam in den Sequenzen des Intimen. Der von Alexander Eberle einstudierte Chor liefert mit Engagement und Spielfreude. Wie war das noch mal mit den „gemeinen Menschen“? Als Alaide im Finale den Schmuck von sich reißt, den sie gerade erst in ekstatischer Beschwörung ihres eigentlichen königlichen Rangs angelegt hat, raffen die Umstehenden im Singen das Geschmeide geschwinde vom Boden auf. „Das eigentliche Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare“, wird Oscar Wilde im Essener Programmheft zitiert. Loys Sicht auf dieses Eigentliche – die leidenschaftliche, wenn auch vergebliche Liebe, die Brutalität der vernunftlosen Getriebenheit – wird vom Publikum mit anhaltendem, großem Beifall quittiert. Eine Belcanto-Trouvaille, die Lust macht auf mehr.

Ralf Siepmann





Fotos: Thilo Beu