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Fakten zur Aufführung 

VOM MÄDCHEN, DAS NICHT SCHLAFEN WOLLTE
(Marius Felix Lange)
15. Februar 2014
(Uraufführung am 14. Februar 2014)

Deutsche Oper am Rhein,
Theater Duisburg


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Opulenz für alle

Familienopern sind solche, die scheinbar kindliche Themen behandeln, aber mit ausreichender Ausstattung auf der großen Bühne eine Wirkung entfalten, die die ganze Familie – vom Enkel bis zur Oma – berührt. Mit Der gestiefelte Kater, Die Prinzessin auf der Erbse oder Die Nachtigall hat die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg schon einige Erfahrung und vor allem Erfolge sammeln können. Jetzt ist die Rheinoper eine Kooperation mit der Dortmunder Oper und dem Theater Bonn eingegangen, um noch eins draufzusatteln. Gemeinsam erteilten die drei Häuser den Kompositionsauftrag für eine neue Familienoper an den Komponisten Marius Felix Lange und den bekannten Düsseldorfer Kinderbuchautor Martin Baltscheit, der das Libretto nach einer seiner Geschichten verfasste. Herausgekommen ist ein Werk, das in seiner Komplexität tatsächlich ein Publikum von 8 bis 80 ansprechen kann.

Vor allem aber dann, wenn es in die Hände eines erfahrenen Regie-Teams kommt, das keine Angst vor Größe hat. Johannes Schmid liefert hier ein Meisterwerk ab, das in anderthalb Stunden alles bietet, was große Oper haben muss, um den ganz eigenen Zauber zu entfalten. Die eine Seite ist Schmids Personenführung, die keine Wünsche offen lässt und ein lebendiges, abwechslungsreiches Schauspiel ermöglicht. Hier steht keiner an der Rampe, und niemand muss sich die nächsten Schritte überlegen. Eins greift ins andere, ein wunderbarer Fluss entsteht. Selbst die gefürchteten Längen zum Ende hin bleiben schlicht aus. Die andere Seite ist die – wieder mal – großartige Arbeit von Tatjana Ivschina. Sie hat eine Bühne geschaffen, die in ihrer Detailfreude, überraschenden Wendungen und großer Fantasie einlädt, sich ganz und gar in die Geschichte hineinziehen zu lassen. Dabei nutzt sie die Räume in allen Ebenen, schafft ungewöhnliche Perspektiven und kommt mit denkbar wenigen Umbauten aus, die quasi en passant passieren. Dass es dazu stimmige Kostüme gibt, ist fast schon selbstverständlich. Herrlich, wie Ivschina beispielsweise die Schützen charakterisiert. Fast möchte man den Namen des Schützenvereins benennen, weil man die Typen doch alle wiedererkennt. Ausgeleuchtet wird das Geschehen zumeist treffend und stimmungsvoll von Volker Weinhart. Und weil in einer „richtigen“ Oper auch die Choreografie nicht fehlen darf, zeigt Anna Holter mit ihren Tänzerinnen und Tänzern mal, was da eigentlich alles geht. Vor allem der große Freudentanz gegen Ende ist ein Feuerwerk choreografischer Möglichkeiten, dass einem Hören und Sehen vergeht.

In diesem Setting spielt sich die wunderbar fantasievolle Geschichte von Martin Baltscheit ab. Lena und Leander sind, nun, eng befreundet. Wie das eben so ist in der Pubertät. Lena denkt noch mehr an Kuchen als an Küssen, während Leander sogar droht, den Ort zu verlassen und in die Welt hinaus zu gehen, um so vielleicht schneller ans Ziel seiner Testosteron-gesteuerten Leidenschaft zu kommen. Als er versehentlich mit einem Steinwurf einen Vogel tötet, versucht er, Lena damit zu trösten, dass der Vogel nur schlafe. Wenn Schlaf allerdings so aussieht, findet Lena, taugt er zu nichts und sie verzichtet fortan darauf. Das ruft die Schützen auf den Plan, die eine ansteckende Krankheit befürchten. Und wenn sie in Zukunft auch nicht mehr schliefen, müssten sie ja viel mehr arbeiten. Hier übrigens der einzige logische Fehler im Libretto: Echten Schützen wäre sofort eingefallen, dass sie dann mehr Zeit zum Feiern haben. Nach allerlei Zwischenstationen gelingt es Leander, Lena zu „retten“ und sie schlafend in den Heimatort zurückzubringen. Das Happy-end zieht sich etwas hinaus, gelingt aber letztlich doch. Dass der Mond und sein Kuchen, eine Frau, die Vögel erfindet, und Totengräber auch noch eine Rolle spielen, sorgt für ein dichtes Spiel auf der Bühne, ohne zu Verwirrungen zu führen.

Marius Felix Lange hält sich mit „Zeitgenössischem“ in seiner Komposition zurück. Immer wieder bedient er im besten Sinne Hörgewohnheiten, ohne auf moderne Einflüsse zu verzichten. So sind komplexe, anspruchsvolle Rollen entstanden. Das Publikum der Uraufführung am Vortag hat es ihm mit frenetischem Applaus gedankt. „Man fühlt sich für einen Moment wie ein Popstar“, zeigt Lange sich tief beeindruckt. Und wüsste man nicht ganz genau, dass es nicht stimmt, würde man Stein und Bein schwören, dass er die Rolle der Lena Alma Sadé auf den Leib geschrieben hat. Eine Person in der Pubertät darzustellen, dürfte so ziemlich zum Schwierigsten gehören, was man sich an Rolle vorstellen kann. Die Abgründe zwischen dem Schwanken der Seele, der Entdeckung des Körpers, mächtiger Hormonschübe und einer verbliebenen kindlichen Naivität auszuloten, hat schon manchem Jungschauspieler seine Grenzen aufgezeigt. Sadé gelingt es meisterhaft. Dazu kann sie alle Möglichkeiten ihrer Stimme zelebrieren. Der Komponist verlangt ihr einiges ab. Vom zarten Schmelz, der von Poesie erzählt, bis zu den klaren Höhen, die sich in wenigen Passagen gegen das Orchester behaupten müssen, bewältigt die Sängerin die Anforderungen tadellos. Dmitri Vargin zeigt einen sehr natürlichen, authentischen Leander, der Lena wunderbar ergänzt. Fantastisch ist die Stimme von Florian Simson als Mond mit einem sehr modern wirkenden, metallischen Klang, ohne ins Künstliche abzudriften. Auch er darstellerisch ein Vergnügen. Mindestens ebenso wie Totengräber Günes Gürle, der das Böse und Finstere seiner Rolle nicht nur mit seinem Bass bestätigt, sondern auch auf Schritt und Tritt zeigt. Elegant die Erhabenheit und Schönheit in der Stimme von Elisabeth Selle als Alba. Gleichermaßen stark besetzt die Nebenrollen; für die Eltern leistet man sich gar den Luxus einer Susan McLean und eines Bruno Balmelli. Der Chor der Deutschen Oper am Rhein ist von Christoph Kurig ordentlich einstudiert.

Lukas Beikircher führt die Duisburger Philharmoniker, aber auch die Sänger und den Chor sehr konzentriert mit klaren, knappen Ansagen durch die ungewohnte Partitur. Er hat auf den Frack verzichtet und stattdessen ein schwarzes Hemd gewählt. Das passt zu seinem Dirigat. Beikircher schwingt den Taktstock nicht für den Rang, sondern kommuniziert bevorzugt in direktem Kontakt mit Musikern und Sängern. Das Ergebnis ist herausragend.

Weniger exzellent gibt sich das Publikum. Der Begriff der Familienoper ist noch ungewohnt. Ist eben doch was für Kinder. Also werden die lieben Kleinen ohne Rücksicht auf Altersempfehlungen in die Oper geschleppt. Persönlicher Dank an die Mutter, die offenbar unter der Woche keine Zeit hat, mit ihren beiden Töchtern zu schwatzen und das in den 90 Minuten der Oper nachholt. Beim Fast-Food-Anbieter hätte sie nicht mal zu flüstern brauchen. Aber das wäre vermutlich nicht politisch korrekt gewesen. Ansonsten sind Konzentration und Disziplin beeindruckend. Um anderthalb Stunden durchzuhalten, bedarf es doch aller Kräfte. Und so fällt der Applaus müde aus. Ein paar Begeisterungsrufe vor allem für Sadé und Vargin. Aber dann ist die Luft doch raus. Nach einem Abend, der einen so tief und vielfältig beeindruckt, möchte man nur noch eins: Nach Hause. Die erfreuliche Nachricht: Das Konzept der Familienoper funktioniert. Unverkennbar ist, dass an diesem Abend nicht nur viele Kinder zum ersten Mal in der Oper sind. Alle waren sie aber nicht zum letzten Mal da. Und wenn die Bühnen- und Graben-Arbeiter sich nach dieser fulminanten Aufführung alle ein bisschen wie Pop-Stars fühlen, liegen sie mit ihrer Einschätzung genau richtig.

Michael S. Zerban





Fotos: Hans-Jörg Michel