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Fakten zur Aufführung 

b.19
(Martin Schläpfer)
28. März 2014
(Uraufführung)

Ballett am Rhein Düsseldorf
Duisburg, Oper Düsseldorf


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Tanz

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Tanz geht auf Tuchfühlung mit dem Computer

In Düsseldorf teilen sich Stücke der Altmeister des Tanzes den Abend mit Gedankenspielen der jungen Generation. So bleiben die tanzgeschichtlich bedeutenden Stücke frisch und es kann so etwas wie Repertoire-Bildung in den Köpfen der Zuschauer entstehen. Neu entstandene Choreographien in solch einen Zusammenhang zu stellen und sie quasi in den etablierten Kontext einzubauen, kann dabei zur tatkräftigen kuratorischen Unterstützung ausarten.

So wie in b.19, wo mit Hidden Features die erst dritte Choreographie des designierten Chefchoreographen des Oldenburger Staatstheaters zu erleben ist. Antoine Jully hat „ein Stück entwickelt, in dem es darum geht, wie ein Computer von einem Virus infiziert und dieses geheime Innenleben zerstört wird.“ Darin erfährt er Unterstützung von Kevin Gamez, der in der Kostümgestaltung die Tänzerinnen und Tänzer in ausgeklügelte, aber nicht augenscheinlich computertechnisch-plakativ anmutende Anzüge steckt. Der futuristische Look wird durch weiße Eierkopf-Hauben, weiß-bunte Pixelmotive und schwarzen Anzügen mit weißen Platinen-Bahnen hergestellt. Die Musikauswahl fiel auf fünf Stücke für Streichquartett von Erwin Schulhoff und dem Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 40 von Henryk Mikolaj Górecki. Die Idee, den Virusinfizierten Computer zum Schluss in Flammen aufgehen zu lassen, setzt Matthias Oostrik mit gelungener Real Time Video Interactions in die Tat um: Die Bewegungen der Tänzer auf der Bühne werden von einer Kamera aus dem Zuschauerraum erfasst, die so gewonnenen Daten von einem Computer in Datenströme umgerechnet und auf die Leinwand auf der Bühne projiziert. Die 37 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne sind mit großer Energie zugange, um das Computerinnenleben darzustellen. Flott und mit zackigen Bewegungen durchmessen sie die große Bühne. Die Liebesgeschichte zwischen Grafikkarte, Jackson Carroll, und Motherboard, Marlúcia do Amaral, ist der Höhepunkt dieses Stücks. Das Publikum hält buchstäblich den Atem an, und es gibt beeindruckten Szenenapplaus für das Duett. Das Augenzwinkern und der Humor, mit dem Jully an die Thematik herantritt, ist bei der Premiere nur in Ansätzen auf der Bühne zu beobachten. Alle Tänzer sind fokussiert, und die gelassene Spielfreude will noch nicht so ganz aufblitzen. Hier geht es eben noch darum, sich zu beweisen, und das Stück kann noch mit den Tänzern reifen. Zum Schluss des Stückes präsentiert do Amaral einen Apfel, der, korrekt abgeknabbert, mit ausgestrecktem Arm in den Zuschauerraum gehalten wird. Worin hier die Ironie versteckt sein soll, erschließt sich nicht. Für jüngere Zuschauer ist es eine Werbebotschaft für angebissenes Kernobstgewächs: Seht her, wir sind auch schon in der Tanzwelt angekommen! Die Älteren übersehen den Wink und rätseln über den Zusammenhang von Erbsünde und Computern. Werbung im Opernhaus auf neuen Pfaden. Das Düsseldorfer Publikum hebt trotzdem zum frenetischen Applaus an und bedankt sich ausgelassen für das digitale Gedankenspiel.

Nach der Pause geht es weiter mit Scenario von Merce Cunningham. Entstanden 1997, ist das Stück im Dialog mit dem Merce-Cunningham-Trust für das Ballett am Rhein von Banu Ogan und Daniel Squire neu einstudiert worden. Scenario ist in Zusammenarbeit zwischen Cunningham, dem japanische Fluxus-Musiker Takehisa Kosugi und der Comme-de-Garcón-Modedesignerin Rei Kawakubo entstanden. Die Kostüme von Kawakubo wurden von der Schweizerin Catherine Voeffray aufwendig rekonstruiert: blau-grün-weiß karierte Elasthan-Anzüge mit eingenähten Kissen, die Körperstellen der schlanken Tänzer überbetonen und an Quasimodo erinnern. Die knubbeligen Formen bleiben während des gesamten Stückes erhalten, aber die Kostümfarben wechseln zu schwarz und rot; eine Tänzerin trägt eine rote Robe, die die Arme an den Oberkörper bindet. Wie ein nasser Sack wird sie von den Kollegen aufgefangen und umhergeschoben. Die Aleatorik ist auch in diesem Stück omnipräsent: Die Musik Wave Code A-Z von Kosugi ist zwar genauso lang, wie der Tanz von Cunningham dauert, aber existiert ansonsten losgelöst von den Bewegungen der Tänzer. Die Gestaltung von Raum und Licht, der ursprünglichen Gestaltung von Rei Kawakubo nachempfunden, ist klar und kühl wie es in den 1970-er Jahren eben en vogue war. Reihen von Neonröhren bescheinen das Geschehen von oben herab, das Auge des Betrachters kann ganz auf den Bewegungsabläufen der Tänzer verharren. Diese sind mit Zuhilfenahme eines Computersimulationsprogrammes namens LifeForms entstanden. Cunningham nutzte dieses Programm, um zufällige Bewegungen zu finden, ohne menschlich unterbewusste Bewegungserwartungen nutzen zu müssen. Dabei ließ er den Parameter Erdanziehungskraft nicht in die Simulation mit einfließen. Stilistisch ist die Bewegung zwischen klassischem Tanz und Graham-Technik einzuordnen. Die ästhetische Erneuerung, die Erweiterung des Tanzschaffens durch die Aleatorik, das sind Verdienste eines des bedeutendsten modernen Choreographen des 20. Jahrhunderts. Das Publikum im Theater goutiert die anspruchsvolle Kunst höflich, und in der Pause hört man wiederholt den Wortfetzen: „…interessant, aber viel zu lang.“

Der Abend schließt mit Hans van Manens Grosse Fuge von 1971. Beethovens dichte Komposition Große Fuge B-Dur op. 133 und Cavatina aus dem Streichquartett B-Dur op. 130 stellt van Manen seine reduzierte, hoch erotische Bewegungssprache entgegen. Die Bühne von Jean-Paul Vroom hat Jan Hofstra hell, einfach und gut ausgeleuchtet. Die vier Tänzerinnen verharren zu Beginn in hautfarbenden Ganzanzügen und schicken, strengen Hochsteckfrisuren auf der Bühne. Während die vier Herren des Balletts mit nacktem Oberkörper und wallenden schwarzen Röcken mit dickem Ledergürtel mit den Van-Manen-typischen abgezirkelten Fußwegen und zu einem V emporgestreckten Armen mit gesenktem Blick über die Bühne weben. Präzise und mit einer inneren Geisteshaltung interpretiert, ist es genau das, was das Düsseldorfer Publikum sehen will. Der Applaus will einfach nicht abreißen, und als van Manen sich auf der Bühne verbeugt, schallt es warm und begeistert zu ihm empor: die Bravo-Rufe und Lobpreisungen. Gekrönt von einem gigantischen roten Rosenstrauß, der ihm überreicht wird, vergisst man allzu schnell, dass an diesem Abend drei ernstzunehmende Choreographen zu erleben waren. Aber so bleibt nur der letzte Eindruck haften. Das Ballett am Rhein hat einmal mehr bewiesen, dass die unterschiedlichen Tänzerpersönlichkeiten und Physiognomien ein breites Spektrum an Tanztechniken und Epochen bedienen können. Vielseitigkeit, die Spaß macht.

Jasmina Schebesta

 

Fotos: Gert Weigelt